„Occupy“-Bewegung: Spielbälle des wirtschaftlich-politischen Systems

Artikel von Prof. Jürgen Weibler

Verunsicherte Wutbürger in Zeiten der Finanzkrise

Ungewöhnliches spielt sich in vielen Ländern ab: Seit Monaten protestieren Bürgerinnen und Bürger gegen diejenigen, die sie für die Verursacher und Profiteure der Finanzkrise halten, oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Gegen ein System, das von unten nach oben umverteile. Aber nicht, um es abzuschaffen. Sondern um es und sich selbst vor dessen Auswüchsen zu schützen. „Occupy Wall-Street!“: Selbst die Kapitalismus-Kapitale hat die Welle der Demonstrationen erfasst. Von New York schwappte sie zurück nach Europa, erfasste Frankfurt, aber auch ferne Länder wie Singapur oder Sydney: „911 Städte aus 82 Ländern machen mit“, meldete Stern.de im Oktober.

Dass Menschen gegen totalitäre Regime protestieren wie in Nordafrika ist nicht ungewöhnlich, zu erwarten sicherlich auch bei finanziellen Kürzungen wie in Griechenland oder zu hohen Lebenshaltungskosten wie in Israel. „Eine ganz neue Dimension“ dagegen ist für Prof. Dr. Jürgen Weibler, „dass sogar Menschen aus der US-Mittelschicht protestieren, weil sie das politische und wirtschaftliche System nicht mehr durchschauen, es als ungerecht empfinden und sich ihm ausgeliefert fühlen“. Ihnen fehlen Gerechtigkeit und die Perspektive auf Besserung. Prof. Dr. Jürgen Weibler, Betriebswirt und Psychologe, ist Inhaber des Lehrstuhls für BWL, insb. Personalführung und Organisation an der FernUniversität in Hagen.

„Auch bei uns fühlen sich viele Bürgerinnen und Bürger als Spielball von Politik und Finanzsystem“, so Prof. Weibler. Die Anonymität des Systems bezeichnet er als „fast kafkaesk – man kann für das, was geschieht, keine einzelne Person mehr verantwortlich machen“. Angegriffen werden deswegen auch eher Symbole des Systems: Investmentbanker oder Investoren, die täglich Milliarden um den Erdball schicken.

Es sind also keine eindimensionalen Feindbilder wie (nordafrika- nische) Diktatoren, gegen die die „Occupy!“-Proteste sich richten. Der Feind der Demonstranten ist selten das kapitalistische Finanzsystem oder die Demokratie an sich, sondern hiermit einhergehende Komplexitäten, Undurchschaubarkeiten, Auswüchse und Maßlosigkeiten. Sie wollen sich in einem Wirtschaftssystem wiederfinden, in dem sich nicht alles um das „Goldene Kalb Rendite“ dreht, sondern wo der Mensch im Mittelpunkt steht: eine Art „neue soziale Marktwirtschaft“. Und sie wollen wieder wissen, welche Chancen und Perspektiven sie haben. Denn in immer mehr Ländern haben auch gut ausgebildete junge Leute keine Berufsperspektiven. Und gerade sie wollen sich mit ihren Talenten in ihr Land – und nicht in das eines kleinen abgehobenen Zirkels – einbringen.

Diskussionen manipulieren

Viele Menschen haben nach Weiblers Worten den Eindruck, dass andererseits bestimmte Organisationen und Institutionen einseitig geschützt oder nicht hinreichend zur Verantwortung gezogen würden, weil sie „systemrelevant“ seien. Unsere Zeit kranke daran, dass oft gezielt bestimmte Begrifflichkeiten – wie „systemrelevant“ oder „alternativlos“ – in die Diskussion eingebracht werden, um diese zu lenken: Sprachschöpfungen setzten Fakten, die nicht hinterfragt werden (sollen), so Weibler. Es gebe ja angeblich keine Alternative zu dem, was die Mächtigen gerade umsetzen wollen: „So werden weite Teile der Bevölkerung von der Diskussion um die Finanzkrise ausgegrenzt.“

Doch was heißt „systemrelevant“ überhaupt? Die Definition der G20- Gruppe für den Finanzsektor bezieht sich auf Größe, Vernetzung und Substituierbarkeit einer Institution. Niemand mache sich aber die Mühe, das genauer zu hinterfragen, kritisiert der FernUni-Professor: „Um welches System geht es überhaupt, für welches System ist die Institution relevant? Und wie lange? Wer darf überhaupt entscheiden, ob etwas systemrelevant ist? Ist es eine Wohlfahrtsorganisation eigentlich auch?“

Entschieden wird gerne in einem kleinen, geschlossenen, elitären Kreis, so Weibler: „In der Bundesregierung entscheiden ganz wenige tatsächlich, sie sprechen – so die öffentliche Wahrnehmung – vor allem mit Vertretern von Finanzinstitutionen und Spitzen der Finanzbranche.“ Von anderen Vertretern der Gesellschaft sei bei der Finanzkrise nichts zu sehen. Entscheidungen würden daher von vielen als nur noch ökonomistisch motiviert wahrgenommen, gesellschaftliche Folgewirkungen spielten eine untergeordnete Rolle. „Die Re- Zentralisierung von Entscheidungsmacht und die damit verbundene Intransparenz verstört die Menschen, lässt gar eine postdemokratische Attitüde vermuten!“ Aufmerksamkeit verdiene in diesem Zusammenhang durchaus eine Äußerung Angela Merkels, die die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wissen möchte, „dass sie trotzdem (mit Verweis auf das Budgetrecht des Parlaments) auch marktkonform“ sei.

Sprache lenkt Bewusstsein

Statt die Menschen von der Richtigkeit der Entscheidungen durch Argumente und Transparenz zu überzeugen versuche die „Entscheidungselite“, Bewusstsein durch Sprache zu lenken. Diskussionswürdige Positionen würden so besetzt, dass keine Diskussion mehr stattfinde: „Das Schöpfen oder wiederholte Benutzen von Wörtern ist auch eine Machtstrategie. Beispielsweise gibt es keine belastungsfesten Modelle, die zeigten, wie der Zusammenbruch einer Bank ‚unweigerlich’ das System verändert.“ Wenn es gelinge, zentrale Fragen unter Ausschluss anderer in einer „alternativlosen“ Weise alleine zu entscheiden, sei man auch gar nicht mehr verantwortlich – vor allem nicht, wenn die Sache schief geht.

Doch offensichtlich – das zeigen die „Wutbürger-Demos“ – war der Erfolg solcher Strategien zumindest teilweise nur „suboptimal“…

Maß-Verlust wird Maßlosigkeit

Viele empfinden das System auch als ungerecht, weil vielerorts „jedes Maß“ verloren gegangen ist. Sie vermissen Orientierung durch Werte: „In der Finanzwelt wird mit unvorstellbaren Summen jongliert in der Erwartung, auf Fingerdruck durch Transaktionen reich zu werden. Die Akteure erhalten – nach der Wahrnehmung – unabhängig vom Erfolg riesige Bonuszahlungen. Einen produktiven Mehrwert kann man nicht erkennen.“

Damit die Bevölkerung die Führung durch die Regierung akzeptiert, müsse diese ihre fachliche und soziale Kompetenz beweisen und Orientierung geben. Legitimiert werde Führung durch die Übereinstimmung von Führenden und Geführten bei Werten und Normen, erläutert Jürgen Weibler: „Ich weiß nicht, in welchem Umfang es diese Übereinstimmung gibt – sie wurde auf alle Fälle bei den Entscheidungen zur Finanzkrise viel zu lange nicht aktiv angestrebt. ‚Muddling through’ statt strategischer Weichenstellung dominierte!“ Flicken, Auslaufen, Neuerfinden, alles scheint momentan also möglich.

Nur eines ist sicher: „Ein politisches oder wirtschaftliches System, das seine Legitimation durch Problemlösung und gerechtes Agieren nicht beständig erneuert, verliert seine Zustimmung!“

Das klingt wie eine Drohung…

 

In Kürze:

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