Die Urangst vor dem Zinseszinseffekt

Wenn Kapitalismuskritiker beweisen wollen, dass das inkriminierte System nachhaltig ja gar nicht bestehen könne, dann bringt man das sogenannte Zinseszins-Paradoxon hervor. So etwa im Deutschlandfunk.  „Unendliches Wachstum kennt die Natur nicht, somit auch keinen Zinseszinseffekt.“ Und weil der Kapitalismus ja auf diesem fuße, gäbe es auch diesen nicht (ewig). So einfach ist das. Dann aber doch wieder nicht.


Der „Jesus-Schmäh“

 

Begleitet wird das Paradoxon gern mit einem Ausflug in antike Zeiten. Hätte man Jesus Christus nicht gekreuzigt und den Nagel im Wert von einem Euro stattdessen auf ein Sparbuch mit einer Verzinsung von 3% gelegt, dann hätte man das kapitalistische System heute schon gesprengt. Mit Zins und Zinseszins wäre die Summe nach 2000 Jahren rein rechnerisch nämlich schon auf 47,255.178,755.828,605.388,683.227 angewachsen. Natürlich könnte keine Bank der Welt die Summe ausbezahlen. Selbst das gesamte Gold, das bis heute gefördert wurde, wäre nur einen Bruchteil wert: 3,267.000,000.000 Euro .

Wie bei allen Versuchen, das kapitalistische Produktionsprinzip totzurechnen, ist man auch hier mit Fakten nicht gerade zimperlich. Frei und flugs nimmt man eben mal 3% Verzinsung an – für die Dauer von 2000 Jahren. Doch muss man in der Menschheitsgeschichte nach solch enormen Zuwachstraten suchen wie nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Frei nach dem Motto: Nehmen wir doch einfach einmal die besten 20 Jahre aus 2000 Jahren heraus und rechnen sie auf 2000 Jahre Dunkelheit zurück. Linear natürlich, der Einfachheit halber. Dem stehen allerdings wieder einmal harte Fakten gegenüber:



•             Von Christi Geburt an bis ins Mittelalter (um 1000) war das Wirtschaftswachstum negativ, es lag bei -0,01 Prozent.  Die Verzinsung von Sparguthaben (so es sie überhaupt gegeben hätte), hätte bei minus einem Prozent („-1%“) gelegen. Erst um 1500 begann zaghaftes Wachstum und selbst von 1000 bis ins Jahr 1820 war das Welt-BIP nur um 0,34% im Jahr im Schnitt gewachsen. Der Pächter des Arlberger „Hospizes“ bezahlte 1667 immerhin 36 Gulden pro Jahr. Genau so viel wie 1517 – 150 Jahre vorher. Nur in der kurzen Zeitspanne von 1820 bis heute waren es durchschnittlich 2,13% Wachstum im Jahr. Aber nur in wenigen Jahren übertrafen die Sparbuchzinsen dabei auch die Inflation.

•             Wenn das Wirtschaftswachstum bei 0,25% jährlich liegt, können Banken maximal ein Prozent weniger an Spar-buchzinsen versprechen – also „minus“ -0,75%“. Man müsste also etwas dafür bezahlen, wenn eine Bank auf das Barvermögen aufpasste. Reale, also positive Sparbuchzinsen gab es etwa in Argentinien seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt nur in einem einzigen Jahr. Und selbst in Großbritannien war dies nur in jedem zweiten Jahr der Fall gewesen.

•             Berücksichtigt man also realistische Wachstumszahlen, dann ergibt ein Euro, der im Jahre 0 auf ein Sparbuch mit einer Verzinsung von 0,03 Prozent eingezahlt wurde, nach gut 2000 Jahren einen Betrag von etwa 414,45 Euro. Und den Betrag stemmt selbst die Raika Müllendorf.

Sparen macht arm!

 

Wer fleißig spart, unterstützt die Schuldenpolitik seiner Regierung, ohne davon persönlich zu profitieren. Schuld daran sind negative Sparzinsen − der berühmte Zinseszinseffekt existiert nur in den Phantasien älterer Mathematiklehrer oder marxistoider Organisationen wie etwa Attac.

Wer heute sein Geld aufs Sparbuch legt, wird mit Peanuts abgespeist. Und selbst für Anleihen bekommt man beträchtlich weniger als die Inflationsrate ausmacht. Die Raiffeisenkasse Altenmarkt bezahlt auf Sparguthaben von 5.000 Euro immerhin noch 1,3% Prozent − bei 3,6 % Inflation relativieren sich diese Zins-„gewinne“ aber schnell. In Japan erhalten Sparer 0,05 Prozent im Jahr, wer Staatsanleihen hat, immerhin das Doppelte … 0,1 Prozent.

 

Warum gibt man uns nicht mehr? Gegenfrage: Was wäre Ihnen die vierte Leberkäsesemmel wert, wenn Sie schon drei (um jeweils 2 Euro) verspeist und somit keinen Hunger mehr hätten? Würden Sie die Semmel statt um zwei Euro schon um 1,50 kaufen? Nein? Dann vielleicht als Sonderangebot für nur 10 Cent? – Nein? Nein, denn Sie sind satt.

Und so geht es auch den Banken. Sie schwimmen geradezu in Liquidität (=Geld). Über 40 Jahre hinweg hatte man in Europa Geld gedruckt und als Sozialleistung unters Volk gebracht, über 20 Jahre taten dies die Amerikaner über die FED und die Privatverschuldung ihrer Bürger. Die US-Nationalbank dürfte in den letzten Jahren 14.000 Milliarden Dollar Geld gedruckt haben, ähnlich viel haben auch Europas Staaten aufgenommen. Auf gut Deutsch: Die Welt schwimmt in Geld. Und die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten 10 Jahren mit Geld „Geld“ verdienen zu können, geht gegen Null. Wer auf Nummer Sicher geht, hat längst in Grund und Boden investiert. Und wer zu leben weiß, hat es verjuxt.

Es ist etwas blauäugig, von heute an für die nächsten 2000 Jahre einfach so mir nichts, dir nichts eine konstant positive Realverzinsung anzunehmen. Eine aktuelle IWF-Studie bewies: In der Hälfte der Zeit zwischen 1945 und 1980 war die Realverzinsung amerikanischer und englischer Staatsanleihen sogar negativ, die Verzinsung also niedriger als die Inflationsrate. So baute man seine immensen Kriegsschulden ab.

Würden Sie heute also einen Yen auf ein Sparbuch legen, könnten Sie in 2000 Jahren, also im Jahr 4012, mit 8,71 Euro rechnen. Die Sparbuch-Monsterzahlen, die Systemzweifler vorrechnen, sind nichts anderes als ein Hilferuf nach Bildung.

Und die Erkenntnis Keynes, „In the long run we are all dead“ (Langfristig sind wir alle tot), erinnert an die schmerzliche Tatsache, dass wir am Ende einmal alles zurücklassen werden müssen. Nicht einmal das Auto können wir nach oben nehmen. Warum sich also die Zeit bis dahin nicht besonders süß gestalten – mit einem aufgelösten Sparbuch?

 

Michael Hörl ist Wirtschaftspublizist aus Salzburg. Er hat Europas erstes „Globalisierungskritik-kritisches“ Buch geschrieben, „Die Finanzkrise und die Gier der kleinen Leute“. Im Sommer ist sein aktuelles Buch erschienen, „Die Gemeinwohl-Falle“.

www.michaelhoerl.at

 

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