Wird Versicherung dank neuer Technologien „menschlicher“?

Eine neue Studie des Swiss Re Institute sieht die Versicherungsbranche in einem massiven Veränderungsprozess. Die Digitalisierung ermögliche neue Geschäftsmodelle, die die gesamte Wertschöpfungskette berühren. Und auch wenn es etwa widersprüchlich klingt: Mittels besserer Daten könnten Versicherungen in heiklen Situationen „menschlicher“ mit Kunden interagieren.

Internetfähige Geräte, umfassende Vernetzung: „Als Folge der Digitalisierung verfügen die Versicherer nun über eine direkte Verbindung zu ihren Kunden.“ So kommentiert Jeffrey Bohn, Chief Research & Innovation Officer beim Swiss Re Institute (SRI), die am Mittwoch veröffentlichte „Sigma“-Studie, die sich mit diesem Thema befasst.

„Dank granularer Daten können die Versicherer ihre Kunden besser segmentieren und so neue maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen entwickeln sowie bestehende in Echtzeit anpassen“, sagt Bohn.

Neue datengestützte Geschäftsmodelle

Das SRI geht davon aus, dass Versicherer künftig zunehmend kontinuierlichen Zugang zu verschiedenen Daten haben werden, etwa von vernetzten Geräten und Plattformbetreibern, oder auch zu verhaltensbasierten Erkenntnissen aus Verbraucher- und Umweltdaten.

Sie könnten mit Hilfe zusätzlicher Daten unbekannte Risiken entdecken und zu schließen versuchen. Indem zum Beispiel Verkehrs- und Wetterdaten kombiniert ausgewertet werden, ließe sich eruieren, ob ein Autofahrer mehrheitlich auf Straßen mit höherem Risiko fährt.

Dies führe zu neuen „datengestützten Geschäftsmodellen“, aus denen „ergänzende und neue Aktivitäten“ für Versicherer entstehen, die sich außerhalb ihrer heutigen Wertschöpfungskette befinden. „Ein wesentlicher Nutzen ergibt sich dabei aus der Zusammenarbeit mit wichtigen Datenanbietern.“

Regulierung ist ein bestimmender Faktor

Ein möglicher Hemmschuh für den sprudelnden Datenfluss – und darauf weist die Studie auch selbst hin – mag allerdings die Regulierung sein. Der regulatorische Rahmen spiele eine wichtige Rolle dabei, wie neue Technologien in die Versicherungswelt integriert werden können. Da könne es etwa um Fehlberatung, Fehler in Algorithmen oder eben auch um Datenschutzaspekte gehen.

Nicht zuletzt sei zu bedenken, dass Daten falsch interpretiert werden können, wenn der Kontext nicht vollständig bekannt ist. So könnte ein Nichtraucher, der gelegentlich Zigaretten für jemand anderen kauft, fälschlich als Gelegenheitsraucher eingestuft werden und eine höhere Prämie angeboten bekommen, wenn er eine Krankenversicherung abschließen will.

Nicht bloß Schadenzahlung, sondern mehr Risikoprävention

Dennoch: Erkenntnisse über das Kundenverhalten würden immer detaillierter. Dadurch wandle sich die wesentliche Aufgabe der Versicherer „von der reinen Verlustentschädigung hin zu einer breiteren beratenden Rolle zur Risikoprävention und -minderung“, so das SRI.

Wenn also digitale Datenquellen Veränderungen beim Versicherungsnehmer – beispielsweise Heirat, Umzug oder Arbeitgeberwechsel – andeuten, so könne ein Versicherer schon vorab individuelle Maßnahmen zur Risikominderung empfehlen.

Digitale-erweiterte, KI-unterstützte Kanäle

Leicht futuristisch klingt die Prognose zu „digital-erweiterten“ Kanälen. „Neue digitale Interaktionen werden von empathischen Beratungstools der nächsten Generation getrieben sein, erweitert durch künstliche Intelligenz“, heißt es in der Studie.

Das bedeutet aber nicht, dass der menschliche Berater restlos vom Androiden ersetzt würde. Vielmehr sollen Agenten und Makler von solchen Werkzeugen Gebrauch machen können, um besser auf den „emotionalen, situationsbezogenen und persönlichen Kontext“ des Kunden eingehen zu können.

Menschliche Interaktion „spielt weiterhin eine Rolle“

Das SRI geht daher davon aus, dass die Kontaktpunkte zwischen Verbrauchern und Anbietern „überwiegend digital“ gestaltet sein werden, wobei aber „die menschliche Interaktion auch weiterhin eine Rolle spielt“.

So könnten Versicherer die durch die Digitalisierung gewonnenen Erkenntnisse neben der Effizienzsteigerung auch für einen zielgerichteten persönlichen Kontakt in Situationen nutzen, in denen Kunden Empathie erwarten. Eine schwere Erkrankung oder ein Todesfall in der Familie könnten solche Situationen sein, meint das SRI.

Eine persönliche Reaktion auf sensible Ereignisse verleiht dem Versicherer ein menschliches Gesicht.

Swiss Re Institute

Die direkte Beziehung zum Kunden werde sich „im Zuge der Gewöhnung an die neuen Kontaktpunkte und Kanäle sowie angesichts der zunehmenden Automatisierung von Back-Office-Prozessen wie Marketing/Vertrieb, Underwriting und Schadenbearbeitung weiterentwickeln“.

Mit Hilfe von Verbraucherfeedback und -analysen könnten die Versicherer bestimmen, wo persönlicher Kontakt die größte Wirkung erziele.

Unterschiede von Land zu Land

Speziell international tätige Versicherer dürften sich dem Umstand gegenübersehen, dass in anderen Ländern durchaus andere Sitten herrschen können. Gleicher Zugang zu Online-Einkaufsmöglichkeiten müsse nämlich nicht notwendigerweise zu ähnlichen Durchdringungsgraden führen. Kulturelle Charakteristika könnten mit zu dieser Verschiedenheit beitragen.

Das macht die Studie unter anderem am Beispiel von Schweden und Spanien fest: Während beide Länder ähnlich hohe Internetzugangsgrade aufweisen, ist der Anteil der Online-Versicherungskäufe in Schweden deutlich höher als in Spanien. Im Übrigen sei auch die Bereitschaft der Konsumenten, Daten zu teilen, von Land zu Land unterschiedlich groß.

Die 52-seitige „Sigma“-Studie „Data-driven insurance: ready for the next frontier?“ (nur in englischer Sprache abrufbar) kann von der Swiss-Re-Website als PDF-Dokument heruntergeladen werden.

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