Der aktuelle Neuwirth Finance Zins-Kommentar
Zunächst ist Joe Biden im Gegensatz zu Donald Trump ein Mann, der bereits über Jahrzehnte am politischen Geschehen mitgewirkt hat und durchaus einen diplomatischen Umgang zu pflegen scheint. Man kann davon ausgehen, dass Joe Biden Verträge und Institutionen, wie z.B. die WTO, respektieren wird und ein respektvolles Miteinander einfordert und vorlebt. Das schafft eine gewisse Vorhersehbarkeit, die allen Beteiligten die nötige Sicherheit gibt in der Gegenwart und für die Zukunft zu handeln. Zwar bleiben gewisse Streitpunkte zwischen den USA und Europa bestehen, wie z.B. sicherheitspolitische Fragen, doch werden die Konflikte anders ausgetragen werden. So kommentiert es auch die die Leiterin des ifo Zentrums für Außenwirtschaft, Lisandra Flach, in einem aktuellen Gastbeitrag im Handelsblatt: „Biden ist kein Freihändler. Auch die Demokraten haben in ihrem Wahlprogramm sehr viel Protektionismus. Jedoch ist Biden von der Zusammenarbeit im Rahmen von internationalen Institutionen überzeugt. Darin unterscheidet er sich deutlich vom gegenwärtigen US-Präsidenten Donald Trump.“
Der USA geht es vor allem darum, die Vormachtstellung in der Welt gegenüber China zu verteidigen. Das bevölkerungsreichste Land Asiens stieg 2012 erstmalig zur größten Handelsnation auf und baut seither seinen Vorsprung aus (Vgl. Abbildung 1). Europa sollte es vermeiden zwischen die Fronten zu geraten und den Disput zwischen China und USA als Chance verstehen – frei nach dem Motto „Wenn zwei sich streichen, freut sich der Dritte“. Sollte der Konflikt weiterhin über die Erhebung von Strafzöllen ausgetragen werden, könnte Europa als Alternative für beide Nationen herhalten. Erhebt etwa die USA Zölle auf chinesisches Fleisch, könnten dänische und deutsche Produzenten profitieren. Bei Betrachtung der Abbildung 1 wird auch deutlich, dass Europa nur im Verbund gegenüber den beiden Großmächten China und den USA seine Handelsinteressen durchsetzen kann. Die amerikanische Regierung drohte in den letzten Jahren immer wieder damit, Zölle zum Beispiel auf Kraftfahrzeuge zu erheben. Das Handelsdefizit zwischen Deutschland und den USA betrug im Jahre 2019 fast 50 Milliarden Euro. Ob sich unter Joe Biden die Haltung gegenüber Europa ändern wird, bleibt abzuwarten. Doch ohne ein geschlossenes Auftreten der europäischen Gemeinschaft wird es schwierig auf Augenhöhe zu verhandeln.
Quelle: Destatis
Auf der Agenda Joe Bidens stehen vor allem eine fairere Steuerpolitik, Investitionen in Infrastruktur, Klimaschutz und Bildung, sowie eine Stärkung der heimischen Wirtschaft. Der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman erachtet ein großangelegtes Konjunkturprogramm als zwingend notwendig, um die Pandemie und die Wirtschaftskrise erfolgreich zu bekämpfen. So muss laut Krugman weiter Arbeitslosen und angeschlagenen Lokalregierungen finanzielle Hilfen zugesprochen werden, um den Bedarf an Grundbedürfnissen zu decken und ein solides Niveau an Konsum aufrechtzuerhalten. Folgt Joe Biden den Ratschlägen Krugmans dürfte insbesondere die Mittelschicht profitieren. Zudem war es noch nie günstiger Schulden aufzunehmen. Inwieweit der neue Präsident seine Vorhaben durchsetzen kann, hängt vor allem davon ab, ob die Demokraten die Mehrheit im Senat erhalten. 50 der 100 Sitze konnten bereits die Republikaner für sich beanspruchen. 48 Sitze konnten die Demokraten für sich gewinnen. Die verbliebenen Plätze werden in einer Stichwahl im Januar nächsten Jahres bestimmt. Halten die Republikaner und Demokraten jeweils die Hälfte der Sitze, entscheidet die Vizepräsidentin, Kamala Harris, im Falle einer Pattsituation. Das spielt den Demokraten in die Hände. Was die geldpolitische Ausrichtung der amerikanischen Notenbank (Fed) angeht, sollte die US-Wahl keine Auswirkungen haben. Das liegt vor allem daran, dass Joe Biden die Unabhängigkeit der Fed respektiert und geldpolitische Fragen nicht öffentlich kommentiert, um keinen Druck auszuüben.
Der Präsident des renommierten Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel kommentiert die US-Präsidentschaftswahl so: „Für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung ist der Wahlsieg von Joe Biden für Deutschland, Europa und die Weltwirtschaft eine gute Nachricht.“ Europa darf hoffen, dass dies der Wahrheit entspricht.