Nein, wir brauchen Vorgaben, Prozesse und Regeln!

„Wer weniger quatscht, kann auch weniger Quatsch reden.“ Diesen Spruch sollten sich manche Berater zu Herzen nehmen, die mit ihren undifferenzierten Verlautbarungen oft nur ihre mangelnde Feld- bzw. Praxiserfahrung beweisen.

„Na, da hatte der Berater Müller (Name geändert) aber nicht seinen besten Tag.“ Das dachte ich heute Morgen, als ich im neusten Blogbeitrag auf der Webseite seines Unternehmens unter der Überschrift „Unternehmen agil gestalten“ folgende Sätze las:

„Vorgaben sowie standardisierte Prozesse und Regeln nehmen den Mitarbeitern ihre Lebendigkeit. Sie hindern diese daran, ihre Potenziale zu entfalten und ihre Fähigkeiten voll in die Organisation einzubringen; außerdem kreativ und innovativ, mutig und experimentierfreudig zu sein – also all das zu sein, was für die Unternehmen in der VUKA-Welt überlebenswichtig ist.“

Jede Gemeinschaft braucht Regeln zum Überleben

Beim Lesen dieser Zeilen des Inhabers eines großen Beratungsunternehmens, dessen differenzierte Aussagen in Veröffentlichungen ich ansonsten schätze, schüttelte ich innerlich den Kopf – und zwar so stark, dass mir fast das Brötchen, das ich gerade aß, aus dem Mund fiel. Denn obwohl ich für mich in Anspruch nehme, ein libertärer Geist zu sein, bin ich felsenfest überzeugt: Jede Gemeinschaft – wozu auch Unternehmen zählen – braucht Vorgaben, Prozesse und Regeln zum Funktionieren, ja sogar Überleben. Zudem bin ich überzeugt, sie hindern Menschen nicht daran, ihre Potenziale zu entfalten und ihre Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen sowie kreativ und innovativ, mutig und experimentierfreudig zu sein, nein, sie schaffen hierfür erst die erforderlichen Rahmenbedingungen – zumindest dafür, dass dies zielorientiert geschieht.

So bin ich denn auch felsenfest überzeugt, dass es auch in dem Beratungsunternehmen von Herrn Müller Regeln gibt, wer über größere Investitionen, Neueinstellungen usw. entscheiden darf. Sonst wäre das Unternehmen vermutlich schon lange pleite, und seine Mitarbeiter wären beschäftigungslos. Ebenso bin ich überzeugt, dass es Regeln bzw. Richtlinien gibt, nach denen entschieden wird, für welche Probleme in Unternehmen entwickeln wir „Lösungen“ bzw. Beratungsangebote. Ansonsten würden sich im Produkt- bzw. Leistungsportfolio des Beratungsunternehmens vermutlich binnen kürzester Zeit zahlreiche Produkte befinden wie „Yoga für Kleinkinder“ oder „Fitness für Best-ager“, die zwar die Mitarbeiter des Unternehmens gerade „spannend“ finden, aber nichts mit dessen Positionierung im Markt zu tun haben.

Regeln schaffen den Rahmen für die freie Entfaltung

Ebenso bin ich felsenfest davon überzeugt (nein, ich weiß es), dass es in dem Beratungsunternehmen Vorgaben gibt, welche Qualitätskriterien ein neues Beratungs- und Trainingsprodukt erfüllen muss; des Weiteren, dass es in ihm definierte Verfahren gibt, um zu überprüfen bzw. zu gewährleisten, dass die Beratungsleistungen letztlich nicht nur den eigenen Qualitätsansprüchen, sondern auch denen der Kunden entsprechen. Ansonsten hätte das Beratungsunternehmen vermutlich auch nicht so einen exzellenten Ruf im Markt und könnte in ihm auch nicht seine hohen Preise durchsetzen.

Also auch in dem Beratungsunternehmen gibt es zahlreiche Vorgaben, standardisierte interne Prozesse und Regeln, die es in der Alltagsarbeit zu beachten gilt. Inwieweit diese schriftlich fixiert sind oder informelle, jedoch verbindliche sind, weiß ich nicht. Doch es gibt sie! Und das ist gut so, sowohl für das Beratungsunternehmen, als auch für seine Kunden, die weitgehend im gehobenen Mittelstand zuhause sind.

Es mag ja sein, nein, es ist so, dass ein zu starres Korsett an Vorgaben, Regeln usw. – unabhängig davon, ob sie im Betriebsalltag nun Vereinbarungen oder Commitments heißen – die Kreativität der Mitarbeiter einschränkt, Regeln können diese aber auch in die gewünschten oder erforderlichen Bahnen lenken. Ebenso kann es selbstverständlich sein, dass Regeln, die zu heiligen Kühen hochstilisiert werden, die man bei Bedarf nicht schlachten darf, die Lebendigkeit (oder neudeutsch Agilität) mindern, doch deshalb Vorgaben, Regeln und definierte Prozesse gänzlich zu verpönen, heißt „das Kind mit dem Bade ausschütten“ – und dies ist eine undifferenzierte Betrachtungsweise, die ich von dem Inhaber des Beratungsunternehmens ansonsten nicht kenne.

Berater-Aussagen fehlt oft die nötige Differenzierung

Warum ich trotzdem zur Feder greife? Die Antwort ist einfach. Mich nerven zunehmend die undifferenzierten Aussagen, die in der Beraterszene gang und gäbe sind.

  • Mich nervt es, wenn ich Sätze lese wie „Der Mindset der Führungskräfte muss sich ändern“, gerade so als seien alle Führungskräfte tumbe, das heißt unsensible Wesen und hätte sich im Bereich Führung in den letzten Jahrzehnten in den Unternehmen nicht schon vieles geändert.
  • Mich nervt es, wenn sich Sätze lese wie „Führungskräfte dürfen keine ‚Verwalter‘, sie müssen ‚Gestalter‘ sein“, die nicht reflektieren wie vielfältig (neudeutsch „divers“) die Rollenanforderungen an Führungskräfte sind, was ja gerade das adäquate Wahrnehmen der Führungsfunktion im Betriebsalltag so schwierig macht.
  • Mich nervt es, wenn Agilität undifferenziert als die Lösung aller Probleme in Unternehmen präsentiert wird, unabhängig davon, ob gerade von deren Forschung & Entwicklung, Produktion oder Verwaltung die Rede ist.
  • Mich nervt es, wenn Berater suggerieren Führung und hierarchische (Entscheidungs-)Strukturen seien im Unternehmen der Zukunft obsolet, genauso als ließen sich Konzerne wie VW oder die BASF wie Garagenfirmen organisieren und führen.
  • Mich nervst es, wenn so getan wird, als bräuchten Unternehmen nur „Kreative Geister“ und „Querdenker“, die das Rad immer wieder neu erfinden ,und nicht mindestens ebenso dringend „fleißige Bienen“, die faktisch das Rückgrat jeder Organisation bilden, weil sie zuverlässig die anfallende Arbeit abarbeiten bzw. treu und brav, „nine-to-five“ ihren Job erledigen.

Eindruck: PE- und OE-Debatte stagniert?

Wenn ich ein – aus meiner Warte – so „naives Gequatsche“ von Beratern bzw. Personen, die sich als Personal- und Organisationentwickler sowie systemische Denker verstehen, lese, packt mich zuweilen die Verzweiflung, denn dann habe ich den Eindruck:

  • „Da war ja die Personal- und Organisationsentwicklerdebatte vor 30, 40 Jahren schon viel weiter“. Und:
  • „Über systemisches Denken wird zwar viel geschwatzt, aber wir fallen zurzeit wieder in die Steinzeit des systemischen Denkens zurück.“

Zumindest sind solche Pausschalaussagen für mich kein Ausdruck von Felderfahrung und Kompetenz, sondern eher der Ausdruck eines undifferenzierten Denkens, das sich in Parolen verdichtet.

Die obigen Aussagen gelten nicht für das Gros der Berater – das sei expressis verbis betont. Sie gelten aber für so manchen Berater, der sich selbst als Vordenker versteht … und glaubt, dass er gerade mal wieder zuhause im stillen Kämmerchen die Lösung für alle Probleme der Unternehmen oder gar der gesamten Menschheit gefunden hat.

Vollzieht sich ein Paradigmen- oder ein Generationenwechsel?

Zuweilen frage ich mich, wenn ich die – aus meiner Warte – nicht selten naive Debatte über Managementhemen verfolge, aber auch:

  • Spiegelt sich hierin eventuell ein Generationenwechsel in der Beraterzunft sowie der Personal- und Organisationsentwickler-Gilde wider? Und:
  • Ist dies ein Zeichen dafür, dass in der Beraterzunft sowie der Personal- und Organisationsentwickler-Gilde der Wissenstransfer, und zwar insbesondere des Erfahrungswissens, an die nachfolgende Generation nicht funktioniert?

Zuweilen denke ich aber auch: Vielleicht vollzieht sich in der Personal- und Organisationsentwickler-Debatte zurzeit gerade ein Paradigmenwechsel und ich bin ein „verknöcherter, alter Sack“.

Bernhard Kuntz

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