Investieren und die Liquidität sichern. Umstrukturieren und das Alltagsgeschäft am Laufen halten. In solchen Zielkonflikten, auch Dilemmata genannt, befinden sich Unternehmen stets. Also müssen ihre Führungskräfte lernen, sie zu managen.
„Unsere Chefs wissen nicht, was sie wollen“. Diese Klage hört man oft von Mitarbeitern von Unternehmen. Sie kritisieren immer wieder, ihre Führungskräfte würden sie mit ihren wechselnden Zielvorgaben „verrückt“ machen. Zuweilen zu Recht! Bei schwachen und noch unerfahrenen Führungskräften registriert man oft, dass sie ihre Mitarbeiter mit permanent wechselnden Vorgaben und sich teils widersprechenden Anweisungen „führen“ bzw. „irritieren“.
Meist liegt solchen Klagen von Mitarbeitern jedoch ein Problem zugrunde, mit dem alle Führungskräfte regelmäßig kämpfen: Sie stehen beim Führen des ihnen anvertrauten Unternehmens oder Bereichs vor der Herausforderung, ein ganzes Bündel von sich teils widersprechenden Zielen zu erreichen. Und weil die Rahmenbedingungen sich permanent ändern, müssen sie immer wieder die Prioritäten verschieben.
Die Dilemmata vermehren und verschärfen sich
Das ist in Zeiten wie den aktuellen, in denen solche externen Ereignisse wie die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg sowie deren Folgen die betrieblichen Planungen oft obsolet machen, gehäuft der Fall. Denn sie nötigen das Management oft zu einem kurzfristigen Gegensteuern – zum Beispiel um die Liquidität oder Handlungsfähigkeit des Unternehmens zu wahren.
Dieses Gegensteuern erfolgt notgedrungen nicht selten ohne, dass die Unternehmensführung selbst genau weiß, wie es mittel- und langfristig weitergeht. Hieraus resultiert aus Mitarbeitersicht häufig ein „Hin- und herschlingern“, das bei den Beschäftigten das Gefühl erzeugt „Unser Chefs haben keine Strategie“ – zumindest dann, wenn ihnen die erforderlichen Kurswechsel oder Verschiebungen der Prioritäten nicht hinreichend erklärt werden.
Für Dilemmata gilt: Sie sind nicht lösbar
Von einem Dilemma spricht die Wissenschaft, wenn eine Person zeitgleich mehrere, sich teils widersprechende Ziele erreichen möchte oder muss. Ein typisches Dilemma ist die vieldiskutierte „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Für dieses Dilemma gilt wie für alle Dilemmata: Es lässt sich, zumindest wenn man Beruf mit „Karriere“ gleichsetzt, für die meisten Berufstätigen nur bedingt lösen – egal, wie viel Unterstützung der Arbeitsgeber oder Staat gewährt. Denn wer viel Geld verdienen will, muss in der Regel auch viel arbeiten. Und wer, weil er beruflich vorwärts kommen möchte, rund um den Globus jettet, der kann nicht jeden Abend zuhause sein.
Solche Dilemmata gibt es auch in Unternehmen. Ein typisches Dilemma, vor dem Unternehmensführer oft stehen, ist: Wenn unser Betrieb auch künftig zu den Top-Anbietern im Markt zählen soll, müssen wir investieren – sei es in die Entwicklung neuer Produkte oder Problemlösungen oder in das Erschließen neuer Märkte. Wenn unser Unternehmen hierfür aber viel Geld ausgibt, sinken seine Liquidität und sein Ertrag und die Verschuldung steigt. Das heißt, das Unternehmen wird abhängiger von Kapitalgebern, und dies kann seine Eigenständigkeit und eventuell sogar Existenz gefährden.
Solche Dilemmata existieren in allen Unternehmen, auf den verschiedensten Ebenen top-down. In Krisen- oder Marktumbruchzeiten, in denen sich im Unternehmensumfeld ein Paradigmenwechsel vollzieht, zeigen sie sich jedoch verschärft, weil dann die gewohnten Wege mit ihnen umzugehen oft zu Sackgassen werden. Hierfür ein Beispiel. In der Regel sind alle (produzierenden) Unternehmen bemüht, möglichst „preis-wert“ einzukaufen, um ihre Produktionskosten zu senken und ihre Gewinnmargen zu erhöhen. Dies führte in den zurückliegenden Jahren unter anderem dazu, dass viele von ihnen eine „Global Sourcing“ betrieben und bei ihrer Beschaffung auf „Just-in-time“-Konzepte setzten. Aktuell zeigt sich jedoch: Diese Einkaufsstrategie kann bei „globalen Krisen“ rasch zu Problemen bei der Beschaffung führen, die wiederum die Produktions- und Lieferfähigkeit der Unternehmen schmälern. Deshalb überdenken aktuell viele ihre Prioritätensetzung im Bereich Einkauf und Beschaffung, um auch künftig marktfähig zu sein bzw. zu bleiben.
Dilemmata kann man nur managen und bearbeiten
Kennzeichnend für Dilemmata ist: Sie lassen sich nicht lösen. Denn selbstverständlich muss ein Unternehmen Vorsorge betreiben, dass es auch in fünf oder zehn Jahren noch erfolgreich ist. Also muss es investieren und sich weiterentwickeln. Dabei muss es jedoch darauf achten, dass es sein Tagesgeschäft noch erfüllen kann und liquide bleibt. Unter dem Change darf also seine Produktivität und Marktfähigkeit nicht leiden. Darin, hier im Betriebsalltag die rechte Balance zu wahren, besteht die wahre Managementkunst, denn Dilemma beziehungsweise Zielkonflikte können letztlich nur gemanagt werden. Dabei lassen sich folgende „Schritte“ unterscheiden.
Schritt 1: Das Dilemma erkennen.
Bereits dies fällt den Beteiligten in den Unternehmen oft schwer. Den Top-Entscheidern, weil sie zu wenig ins Alltagsgeschäft des Unternehmens involviert sind und nicht adäquat einschätzen können, was gewisse (strategische) Entscheidungen wie
- „Wir strukturieren um“ oder
- „Wir expandieren“
für die Organisation bedeuten. Und die Führungskräfte auf der Bereichs- und Abteilungsebene sowie ihre Mitarbeiter? Ihnen fällt es oft schwer, ein Dilemma wahrzunehmen, weil sie bei ihrer Arbeit primär ihren eigenen (Aufgaben-)Bereich vor Augen haben und nicht ausreichend sehen, was zudem nötig ist, damit das Gesamtunternehmen (auf Dauer) mit Erfolg arbeitet.
Schritt 2: Das Dilemma nicht negieren.
Pragmatische Macher neigen dazu, Dilemmata zu negieren. Sie interpretieren zum Beispiel Hinweise von Kollegen oder Untergebenen wie
- „Wir haben hier einen Zielkonflikt“ oder
- „Wir könnten ein Problem bekommen, wenn …“
häufig als Ausdruck einer mangelnden Entschluss- und Tatkraft. Entsprechend aktionistisch ist oft ihr Handeln, Dieses trägt meist sogar „Früchte“, zum Beispiel in der Form, dass kurzfristig der Umsatz und die Rendite steigen. Doch nicht selten rächt es sich irgendwann bitter, dass über einen längeren Zeitraum die „konkurrierenden“ Ziele vernachlässigt wurden. Zum Beispiel in der Form, dass Kundengruppen wegbrechen. Oder Leistungsträger scharenweise abwandern.
Schritt 3: Das Dilemma besprechbar machen.
Die meisten Ziele von Unternehmen beeinflussen sich wechselseitig – weshalb ja die Dilemmata entstehen. Entsprechend wichtig ist es, für das Managen von Dilemmata zu analysieren:
- Welche Ziele haben das Unternehmen und seine Bereiche?
- Wie hängen diese zusammen und beeinflussen sich wechselseitig? Und:
- Welchen Einfluss haben sie auf den kurz-, mittel- und langfristigen Erfolg des Unternehmens?
Hilfreich kann hierbei das Erstellen einer Strategielandkarte sein, in der die Ziele aufgelistet sind und ihre wechselseitige Beziehung abgebildet wird.
Schritt 4: Regeln für den Umgang mit Dilemmata vereinbaren.
Welches Vorgehen empfiehlt sich, wenn ein Mitarbeiter erkennt: Es fällt mir schwer, Familie und Beruf zu vereinbaren, und ich leide darunter? Dann sollte er das Gespräch mit seinem Vorgesetzten suchen und zu ihm sagen: „Chef, ich habe einen ‚Zielkonflikt‘. Lass‘ uns mal darüber reden, wie wir ihn so ‚lösen‘ können, dass meine Interessen und die des Betriebs berücksichtigt werden.“ Außerdem sollte er sich mit seinem Lebenspartner an einen Tisch setzen und zu ihm zum Beispiel sagen: „Wir wollen beide Karriere machen und trotzdem Zeit für uns und unsere Familie haben…. Lass‘ uns einmal darüber reden, wie wir ….“. Am Ende des Gesprächs können dann Absprachen getroffen und Regeln für den Umgang mit dem Zielkonflikt vereinbart werden.
Ähnlich ist es in Unternehmen. Auch hier muss jemand die Initiative ergreifen und mit Nachdruck sagen: „Wir haben einen Zielkonflikt und müssen uns auf eine Strategie verständigen, wie wir …“ Dies ist gerade deshalb wichtig, weil viele Zielkonflikte in Unternehmen so „alltäglich“ sind, dass sie oft als „nicht managebar“ erachtet werden. Deshalb wird ihre Bearbeitung so lange auf die lange Bank geschoben, bis bildlich gesprochen die Hütte brennt. Dies ist aktuell in vielen Unternehmen u.a. aufgrund der erschwerten Finanzierung (Stichworte: Zinshöhung, Inflation) und Beschaffung (Stichworte: Lieferkettenprobleme, Energiewende) und sich wandelnden Kundenbedürfnisse (Stichworte: Klimawandel, Nachhaltigkeit) der Fall. Entsprechend leicht lässt sich aktuell betriebsintern vermitteln „Wir müssen unsere Strategien überdenken und unsere Prioritätensetzung verändern“.
Schritt 5: Sich nicht sklavisch an die Regeln halten.
Unternehmen bewegen sich in einem dynamischen Umfeld. Das heißt, die Rahmenbedingungen ändern sich permanent. Deshalb müssen die Beteiligten im Unternehmen regelmäßig prüfen: Eignen sich die formulierten Regeln noch zum Managen der Dilemmata oder brauchen wir neue?
Doch auch zwischenzeitlich müssen sie im Dialog bleiben. Denn im Betriebsalltag tauchen immer wieder „Sonderfälle“ auf, die von den Regeln nicht erfasst werden. Zum Beispiel der Vertrieb hat einen Neukunden an der Angel, der sich zu einem Top-Kunden entwickeln könnte. Dann müssen die Drähte zwischen Vertrieb und Produktion glühen, um zu klären, unter welchen Voraussetzungen gewisse Sonderwünsche doch erfüllbar wären, obwohl eigentlich vereinbart war, ….
Entsprechendes gilt, wenn unvorhergesehene Ereignisse wie
- das Zusammenbrechen strategisch relevanter Lieferketten oder
- ein massiver Anstieg der Rohstoff- und Energiepreise
die Handlungsfähigkeit und Liquidität des Unternehmens bedrohen. Auch dann müssen die Entscheider im Unternehmen sich fragen: Sollten wir unsere aktuellen Regeln für den Umgang mit den Dilemmata zumindest vorübergehend außer Kraft setzen, um markt- und handlungsfähig zu bleiben?
VUKA-Welt erfordert geschärftes Dilemmata-Bewusstsein
Auf besondere Herausforderungen und veränderte Rahmenbedingungen flexibel zu reagieren, gelingt Unternehmen nur, wenn zumindest im Führungskreis ein gemeinsames Bewusstsein darüber besteht,
- in welchen Dilemmata sich das Unternehmen eigentlich stets befindet und
- dass diese Zielkonflikte aktiv gemanagt werden müssen.
Dieses Bewusstsein müssen Unternehmen ihren Mitarbeitern und insbesondere ihren Führungskräften verstärkt vermitteln. Zudem muss ihr Führungspersonal lernen, viele sich teils widersprechende Ziele parallel zu managen und diese bei Bedarf neu auszubalancieren – denn dies wird in der von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUKA-Welt zunehmend eine zentrale Management- und Führungsaufgabe.
Prof. Dr. Georg Kraus
Zum Autor: Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal sowie Autor mehrerer Change- und Projekt-Management-Handbücher.