Mindful Leadership: Achtsame (Selbst-)Führung

 

In der von rascher Veränderung geprägten VUKA-Welt müssen Führungskräfte lernen, ihre gewohnten Reiz-Reaktionsmuster – im Denken und Handeln – bewusst zu durchbrechen. Mindful Leadership hilft dabei.

 

„Irgendwie wird mir alles zu viel. Ich muss in meinem Arbeitsalltag immer stärker darauf achten, dass ich nicht die Contenance und den roten Faden verliere.“ Solche Aussagen hört man im persönlichen Gespräch mit Führungskräften immer häufiger, da sie seit zwei, drei Jahren verstärkt spüren: Wir leben in einer von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUKA-Welt (siehe Kasten), in der ich mein Denken und Handeln regelmäßig überprüfen und nicht selten neu justieren muss.

Die oben genannte Aussage bzw. Klage verweist auf drei Bereiche, in denen sich viele Führungskräfte zurzeit gefordert und teilweise überfordert fühlen.

  1. Bereichsführung: Wie erreiche ich die mir vorgegebenen Ziele, wenn sich die Rahmenbedingungen immer schneller ändern und ich deshalb meine Handlungsstrategien häufiger der veränderten Ist-Situation anpassen muss?
  2. Mitarbeiter- und Teamführung: Wie bewältige ich mit meinem Team die vielfältigen Herausforderungen in Situationen, in welchen die Zusammenarbeit die Kommunikation und Kooperation zunehmend digital erfolgen?
  3. Selbstführung: Wie sorge ich dafür, dass ich trotz meines stressigen Arbeitsalltags meinen inneren Kompass und meine (Arbeits-)Zufriedenheit bewahre, sodass ich weiterhin die Zuversicht und Energie habe und ausstrahle, die nicht nur meine Teammitglieder von mir als Führungskraft erwarten?

 

Die Veränderungen sensibel und bewusst wahrnehmen

Zusammenfassend kann man auch sagen: Den Führungskräften stellt sich die Frage, wie sie in der VUKA-Welt noch

  • den Über- und Durchblick bewahren,
  • ihre Mitarbeiter durch den Dschungel der Veränderungen navigieren und
  • ihre Freude am Job und die hierfür nötige Energie bewahren?

Für das Lösen aller hieraus sich ergebenden Aufgaben benötigen Führungskräfte eine hohe Sensibilität – und zwar für die Veränderungen,

  • die sich im Umfeld des ihnen anvertrauten Bereichs vollziehen – zum Beispiel aufgrund des Ukraine-Kriegs, des Klimawandels, der Covid-Pandemie,
  • die sich bei ihren Mitarbeitern und in der Zusammenarbeit mit ihnen und zwischen ihnen vollziehen – zum Beispiel aufgrund des verstärkten Arbeitens im Homeoffice, des Generationswechsels in der Belegschaft, des immer stärker spürbaren Fachkräftemangels,
  • die sich bei ihnen selbst (im Denken und Handeln) vollziehen – zum Beispiel aufgrund der allgemeinen Entwicklung der (Welt-)Wirtschaft, der steigenden Unsicherheit und sinkenden Planbarkeit, des erhöhten Changebedarfs, des gestiegenen Handlungsdrucks.

Die Reiz-Reaktionsmuster erkennen und durchbrechen

Für dieses bewusste Wahrnehmen der vielfältigen Veränderungen, um darauf als Führungskraft angemessen zu reagieren, hat sich im angelsächsischen Raum der Begriff Mindful Leadership etabliert, der auf Deutsch „Achtsame Führung“ bedeutet. Der Kernbegriff bei diesem Leadership-Konzept lautet „Mindfulness“, also Achtsamkeit. Er bezeichnet eine besondere Form der Konzentration, bei der man bewusst wahrnimmt, was im Moment ist und geschieht – und zwar ohne das Wahrgenommene zunächst zu bewerten, unter anderem um nicht automatisch in die gewohnten Reiz-Reaktionsmuster zu verfallen.

Die positiven Wirkungen von Achtsamkeit auf das geistige und körperliche Befinden sind wissenschaftlich belegt. Ein Vorreiter hierbei war Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn. Er entwickelte vor knapp 50 Jahren mit seinem Team an der University of Massachusetts Medical School in Worcester, das Programm MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction). Dieses 8-wöchige Trainingsprogramm hat zum Ziel, nachhaltig besser mit Stress und den Herausforderungen im Leben umzugehen. Das Programm selbst sowie Modifikationen von ihm werden seitdem weltweit erfolgreich angewendet. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen die positiven Wirkungen solcher Trainingsprogramme und zwar nicht nur auf der psychologischen, sondern auch neuronalen Ebene. Das heißt, im Programmverlauf verändern sich auch die Gehirnstrukturen der Teilnehmer positiv.

Die Fähigkeit zur Selbststeuerung erhöhen

Im Zentrum der Programme steht die Entwicklung der Selbststeuerungsfähigkeit der Teilnehmer durch eine bewusstere Wahrnehmung der Prozesse, die sich nicht nur im Umfeld einer Person, sondern auch in ihr selbst vollziehen. Durch eine erhöhte Präsenz im Moment soll ermöglicht werden, sensibler wahrzunehmen, was im eigenen Bewusstsein geschieht, um so unbewusst wirkende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu erkennen und diese bei Bedarf außer Kraft zu setzen.

Durch diese Form des Bewusstseins-Managements, so die begründete Annahme, entsteht der Raum für etwas Neues, also zum Beispiel ein der Situation angemesseneres Verhalten, da zwischen dem Reiz und der Reaktion eine kleine Zeitspanne vergeht. In ihr haben nicht nur Führungskräfte die Möglichkeit, ihre Antwort bzw. Reaktion auf den Reiz bewusst zu wählen. Das kann im Bereich Bereichs- und Betriebsführung zum Beispiel bedeuten, dass einer Führungskraft bewusst wird, dass man als Manager, wenn sich das Umfeld permanent ändert, sozusagen „auf Sicht fahren“ muss – selbst wenn man selbst gerne einen langfristigen Plan hätte, den man abarbeiten kann. Im Bereich Mitarbeiter- und Teamführung kann dies bedeuten, dass einer Führungskraft bewusst wird, wenn sie bei ihren Mitarbeitern Widerstände gegen Veränderungen spürt, dass auch diese verunsichert sind – weshalb es wenig zielführend ist, Druck auf sie auszuüben. Und im Bereich Selbstführung? Hier kann dies bedeuten, dass einer Führungskraft bewusst wird, dass es gerade in extrem stressigen Situationen oft wichtig ist, mal einen Gang runter zu schalten, um die eigenen Akkus wieder aufzuladen und nicht in einen blinden Aktionismus zu verfallen. Mit anderen Worten formuliert: Eine erhöhte Achtsamkeit ermöglicht es uns, unsere gewohnten Denk- und Verhaltensroutinen sowie Reiz-Reaktionsmuster zu durchbrechen und ein zielführenderes Verhalten zu zeigen.

Die Achtsamkeit der Führungskräfte fördern

Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion sollten Unternehmen bei ihren Führungskräften fördern, denn dann nehmen diese ihre Führungsaufgaben wirkungsvoller und erfolgreicher wahr. Dies erkannte Google bereits im Jahr 2007 und etablierte unternehmensweit ein Programm namens „Search inside yourself“: eine Art Achtsamkeits-Programm. Viele deutsche Unternehmen wie BASF, Bosch, Continental und SAP folgten diesem Beispiel. Auch mittelständische Unternehmen bieten inzwischen ihren Führungskräften solche Trainings- und Coachingprogramme an, denn: Die Nebenwirkungen eines zu gering ausgeprägten selbst-reflexiven Führungsverhaltens können für Unternehmen teuer werden. Studien belegen unter anderem den negativen Einfluss auf en Auswirkungen

  • die Zufriedenheit der Mitarbeiter und deren Engagement,
  • ihre Identifikation mit ihrer Arbeit und Bindung ans Unternehmen,
  • ihre Veränderungsbereitschaft sowie
  • die Qualität der alleine und im Team entwickelten Problemlösungen.

Durch ein achtsamkeit-orientiertes Leadership-Programm kann also nicht nur das Stressniveau der Führungskräfte gesenkt werden, es können auch viele positive Wirkungen für den Unternehmenserfolg erzielt werden.

Die positiven Wirkungen einer erhöhten Achtsamkeit

Genannt seien folgende positiven Effekte.

Unternehmen:

  • eine höhere Produktivität aufgrund einer effektiveren Führungsarbeit,
  • eine höhere Motivation und Zufriedenheit im Team,
  • eine verbesserte Work-Life-Balance und weniger Fehltage,
  • eine höhere Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft
  • eine qualitativ höherwertige (Projekt-)Arbeit aufgrund eines vernetzteren und proaktivieren Handeln,
  • eine höhere Arbeitsidentifikation und geringere Fluktuation aufgrund eines mitarbeiterorientierten Betriebsklimas

Führungskräfte:

  • die Konzentrationsfähigkeit, Intuition und Kreativität steigen,
  • nachhaltige Stressbewältigungsstrategien werden aufgebaut,
  • die Resilienz und Fähigkeit, äußerem Druck standzuhalten, steigen,
  • eine bessere Kenntnis der eigenen Gefühle und Bedürfnisse sowie eine verbesserte Selbst- und Fremdwahrnehmung,
  • eine höhere Empathie und Netzwerk-Kompetenz,
  • ein konstruktiver Umgang mit Misserfolgen,
  • ein proaktives Verhalten und eine höhere Changekompetenz,
  • ein flexiblerer Umgang mit (neuen) Herausforderungen,
  • eine stärkere Fokussierung der Führungskraft und höhere Ausstrahlung und Wirksamkeit als Person,
  • ein mutigeres und schnelleres Entscheiden.

Bessere Führung durch bessere Selbstführung

Vor ein, zwei Jahrzehnten war das Thema Achtsamkeit noch primär ein individuelles Coaching-Thema. In den zurückliegenden Jahren wurde vielen Unternehmen jedoch ausgehend von der Erkenntnis, dass sich die Führungskultur in ihrer Organisation verändern muss, bewusst: Achtsamkeit ist in der VUKA-Welt ein wichtiger Erfolgsfaktor beim Führen, denn Mindful Leadership ermöglicht es,

  • herausfordernde Situationen und Konstellationen neu wahrzunehmen und
  • für sie neue, kreative Problemlösungen und Verhaltensweisen zu entwickeln.

Die Basis für eine achtsame Führung bildet eine bewusste Selbstführung. Achtsame Führungskräfte sind sich ihrer Selbst und Werte sowie ihrer Einstellungen und Motive bzw. Triebfedern bewusst. Dieses Selbst-Bewusstsein und diese Klarheit im Denken, die meist auch eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirken, fallen nicht vom Himmel. Ihr Entstehen erfordert Zeit und ist das Resultat eines regelmäßigen (Ein-)Übens.

Routinen der (Selbst-)Reflexion einüben

Der Schlüssel zum Erfolg ist eine eigene vertiefte Achtsamkeitspraxis. Das heißt: Führungskräfte sollten sich zum Beispiel täglich 15 oder 20 Minuten Zeit für sich selbst nehmen, um

  • ihre Wahrnehmung nicht nur von sich selbst, sondern auch ihrer Umwelt sowie
  • ihre Sensibilität auch für schwache Veränderungssignale

zu trainieren – zum Beispiel durch eine gezielte Meditation. Ob dieses In-sich gehen und Sich-besinnen bzw. Meditieren zuhause im stillen Kämmerchen oder beim Spazieren-gehen im Wald oder beim Unkraut-zupfen im Garten geschieht, ist sekundär; wichtig ist jedoch, dass es zu einer täglichen Routine wird.

Gute, das heißt wirksame Führung ist primär eine Frage der Qualität der dem Handeln zugrunde liegenden Bewusstseinsprozesse. Deshalb sollte ein Mindful-Leadership-Programm genau dort ansetzen: nämlich bei der Fähigkeit der Teilnehmenden zu einer bewussten Selbststeuerung und -führung. Aus dem achtsamen Umgang mit sich können dann Handlungsprinzipien für den Führungsalltag abgeleitet werden.

Barbara Liebermeister

Zur Autorin: Barbara Liebermeister leitet das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ), Frankfurt (www.ifidz.de). Im August 2020 erschien das neuste Buch der Managementberaterin und Vortragsrednerin „Die Führungskraft als Influencer: In Zukunft führt, wer Follower gewinnt“.

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