Artikel von Hans-Jörg Schumacher
Mythos Authentizität
„Authentisch sein“, „authentisch wirken“ – das ist nicht nur für den Erfolg von Führungskräften und Verkäufern sehr wichtig. Für viele Menschen ist dies ein Lebensideal. Doch was ist überhaupt Authentizität, und wie entsteht sie?
„Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm‘ nur viel zu selten dazu.“ Diese Liedzeile singt Altrocker Udo Lindenberg in einem seiner bekanntesten Songs. Und der Titel des meistverkauften Buchs des Alltagsphilosophen David Precht lautet: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“
Über Authentizität spricht jeder. Und jeder möchte „authentisch sein“, aber nie „… werden“. Und damit stecken wir mitten im Dilemma. Für die meisten Menschen gilt: Sie betrachten das, was ist, als ihren wahren Wesenskern. Und was noch schlimmer ist: Sie neigen dazu, ihr Verharren in der Komfortzone als Ausdruck ihrer „Authentizität“ zu verklären. „Wenn ich das machen (sagen oder tun) würde, wäre ich nicht mehr authentisch.“ Diesen Satz hört man als Berater oft von Menschen, die gewisse Verhaltensweisen ändern müssten. „Authentizität“ dient hier als Entschuldigung für ein Verharren im Gewohnten.
Aber was ist eigentlich diese ominöse Authentizität? Ein angestaubter Diskurs über etwas nicht Greifbares? Oder ein alltagstauglicher Begriff, der es uns ermöglicht, uns in einer komplexen Welt zu orientieren und unsere Persönlichkeit zu entwickeln?
Erkennen und entwickle dich!
Den radikalen Konstruktivisten verdanken wir die Erkenntnis: Unsere Persönlichkeit ist kein zementierter Zustand. Vielmehr wandelt, ja erneuert sich unsere Identität regelmäßig – nach Auffassung der US-amerikanischen Forscher Jamie O’Boyle und Margaret King etwa alle 20 Jahre. Das fertige, abgeschlossene Individuum ist also eine Illusion. Und das ist auch gut so. Denn das heißt: Wir können uns entwickeln.
Die Sozialpsychologen Brian Goldman und Michael Kernis nennen vier Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit wir uns als authentisch erleben:
- Bewusstsein: Wir müssen unsere Stärken und Schwächen sowie unsere Gefühle und Motive kennen, also wissen, warum wir uns so und nicht anders verhalten. Erst diese Selbstreflektion und -erkenntnis ermöglicht es uns, unser Handeln bewusst zu steuern.
- Ehrlichkeit: Wir Menschen neigen dazu, uns mit einer rosaroten Brille zu betrachten. Die beiden US-amerikanischen Forscher Nicholas Epley und Erin Whitchurch zeigten Menschen (wie Jochen Mai in seinem Blog Karrierebibel schreibt) Porträtfotos, unter denen sich auch mit Photoshop geschönte Bilder befanden. Dann fragten sie die Versuchsteilnehmer, welches Foto sie im „Original“ zeige. Meist entschieden sich die Probanden für das geschönte Foto. Die anderen Teilnehmer hingegen wurden stets weniger positiv gesehen. Das heißt, bei ihnen bevorzugten die Probanden die ungeschönten Bilder. Fazit: Wer authentisch sein möchte, muss der Realität ins Auge blicken – optisch wie verbal.
- Konsequenz. Wir sollten gemäß unseren Werten einmal gesetzten Prioritäten handeln – selbst dann, wenn hieraus Nachteile für uns entstehen. Denn Opportunismus wirkt langfristig zerstörerisch auf unser Selbstwert-Gefühl.
- Aufrichtigkeit. Natürlich können wir eine Zeitlang ein geschöntes Bild von uns haben. Doch grundsätzlich sollten wir die Größe haben, auch zu negativen Seiten zu stehen – zumindest vor uns selbst.
Unsere Authentizität ist ein Selbst-Konstrukt
Der Moment des Empfindens von Authentizität beginnt also bei uns selbst. Er ist ein Selbst-Konstrukt. Ein Selbstkonstrukt, bei dem es nicht um richtig oder falsch, sondern passend oder unpassend geht. Und dieses Konstrukt optimieren wir im Verlauf unseres Lebens immer wieder und entwickeln uns so.
Ist ein solches Verständnis von Authentizität hilfreich? Ja, denn der Abschied von einem statischen Authentizitäts-Begriff hin zu einem dynamischen macht den Weg für unsere Entwicklung frei. Denn jetzt liegt die Entscheidung bei uns, und wir können uns fragen: Wie „konstruiere“ ich mich in Zukunft so, dass ich
- ein Gefühl von Liebe zu mir selbst,
- ein Gefühl von Wertschätzung und Respekt gegenüber meinen Kommunikationspartnern und
- eine positive Einstellung zu den Aufgaben und Herausforderungen, die auf meinem Weg durchs Leben auf mich warten,
habe?
Wie wir zielgerichtet und effizient an der Entwicklung unserer „Persönlichkeit“ arbeiten, das können wir heute vielen Ratgebern entnehmen – sofern uns nicht zum Beispiel ein Coach auf den richtigen Weg führt. All deren Tipps und Ratschläge sind aber nur von Nutzen, wenn wir bereit sind, uns zu verändern. Ansonsten betreiben wir nur Oberflächenkosmetik, denn wir entwickeln nicht unser Selbst.
Zum Autor: Hans-Jörg Schumacher (1958) arbeitet als Managementberater und -trainer für die Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal (Internet: http://www.kraus-und-partner.de; E-Mail: hansjoerg.schumacher@kraus-und-partner.de; Tel.: 07251/989034).