Artikel von Dr. Constantin Sander
Das neue Schreckgespenst der USA heißt Amy Chua. Die Juraprofessorin und Autorin vertritt das chinesische Erfolgsmodell der Erziehung: Drill. Vorbild für erfolgreiche Erziehung, Leitbild auch für erfolgreiches Management? Chinas Erfolg als Wirtschaftsmacht und die PISA-Studien geben ihr recht. Hängt China damit den Westen bald ab? Wohl kaum.
Amy Chua ist Juraprofessorin an der Yale University und Tochter chinesischer Einwanderer. Die westliche Erziehung war ihr zu weichherzig. Ihre eigenen Töchter hat sie daher mit harten Drill erzogen. Erzogen? Wohl eher gepeinigt. Keine Partys, kein Fernsehen, keine Computerspiele, keine Schultheatergruppe, nicht bei Freundinnen übernachten – und keine Note unter der Bestnote. Gab es Widerstand, wurden Strafen angedroht. „Tigermutter“ und „Mutter des Erfolgs“ sind die Titel, die ihr verliehen wurden.
Welch eine erstaunliche Wandlung. Vor 20 Jahren wäre diese Frau als pädagogisches Fossil verhöhnt worden. Faschistoid wäre ein Etikett gewesen, das man ihr angehängt hätte. Aber jetzt, wo China sich anschickt, den Westen wirtschaftlich einzuholen, ist Drill salonfähig und so tingelt Amy Chua durch die Talkshows und das bürgerliche Feuilleton reibt sich verwundert die Augen.
Mit Drill zum Erfolg?
Ist ihr repressiver Erziehungsstil besser, als der libertäre, westliche Stil? Macht Ihre Erziehung Kinder zu erfolgreichen Menschen? Allein diese Frage ist meines Erachtens schon falsch gestellt. Wäre es nicht viel wichtiger zu fragen, welche Menschen da herangezogen werden sollen? Das menschliche Gehirn ist formbar. Es wird eben so, wie wir es benutzen. Und natürlich kann man Menschen drillen. Und es besteht kein Zweifel daran, dass solche Menschen auch erfolgreich sein können. Aber wollen wir diese Art erfolgreicher Menschen überhaupt?
Drill bedeutet, Menschen gefügig zu machen, den eigenen Willen auszutreiben und sie unter das Regiment eines imaginären idealen Menschen zu stellen. Umso erstaunlicher, dass die Autorin damit im Westen auf Resonanz stößt. Denn was Amy Chua predigt, ist das Ideal maoistischer Erziehung. Nicht das individuelle Konzept von Glück zählt, sondern das, was das Kollektiv, die Partei – oder in diesen Fall eben die „Tigermutter“ dafür hält. Sie will sich ihre Kinder nach ihrem Gusto formen. Es reicht nicht, dass ihre Töchter Erfolg haben sollen. Nein, die Mutter entscheidet, worin sie erfolgreich sein sollen. Eigene Wahl des Musikinstrumentes? Kommt nicht in Frage! Die eine Tochter hat Klavier zu lernen, die andere Geige. „Willst Du nicht üben, verbrenne ich Deine Spielsachen.“ Das ist aus meiner Sicht keine Erziehung, das ist die, an Sadismus grenzende, narzisstische Ekstase einer krankhaft-ehrgeizigen Frau. Mein Tipp: Sperrt diese Tigermutter ein!
China, ein intellektueller Zwerg
Oder sollte Drill doch Schule machen? Kann China Vorbild sein? Wenden wir mal den Blick nach Osten: China ist ein riesiges Land, ein wirtschaftlich rasant erstarkender Gigant. Aber China ist auch ein Zwerg. Auf der Bühne von Wissenschaft und technischer Innovation spielt das menschenreichste Land der Welt allenfalls die Rolle eines Statisten. Kaum verwunderlich: Denn das chinesische Schulsystem ist nicht auf die Förderung von analytischem Denken und Kreativität, sondern eben auf Drill angelegt.
Lernen funktioniert in China nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters. Wissen wird unter Druck in die Schüler hineingefüllt. Von Morgens bis nachmittags wird gepaukt. Kaum Zeit zum Spielen. Allerdings nicht ohne Erfolg, denn in Mathematik hängen zum Beispiel Schüler aus Shanghai ihre Altergenossen aus New York und Berlin um Längen ab, wie der jüngste PISA-Test zeigte.
Auch ein Grund, um über den Sinn und Unsinn von PISA einmal nachzudenken. Denn selbst chinesische Pädagogen kritisieren inzwischen, dass ihre Kinder zu Lernrobotern erzogen werden: Begierig, um Wissen einzusaugen, aber unfähig, damit intelligent zu arbeiten. Professoren bemängeln, dass es den Studenten an eigenständigem Denken und Kritikfähigkeit mangelt. Sie sind gut im Wiederkäuen, aber schlecht im hinterfragen und eigenen Gestalten. Und zahlreiche junge Menschen scheitern psychisch an diesem System, halten dem enormen Druck nicht stand. Sowohl in China als auch unter den chinesischen Einwanderern in den USA herrscht eine überdurchschnittlich hohe Suizidrate unter Kindern und Jugendlichen.
Das alles ist nicht verwunderlich, denn wie uns Neurobiologen glaubhaft versichern, erzeugt das Lernen unter Druck auch Angst und fördert damit einen kognitiven Stil, der den kreativen Umgang mit den Lerninhalten massiv erschwert. Das Erlernte bleibt mit dem Gefühl von Druck und Angst verbunden, was den freien Umgang, das kreative Hantieren mit Wissen verhindert. Eine Fehlerkultur gibt es nicht. Im Gegenteil: Jeder hat tadellos zu funktionieren, wenn er nicht sein Gesicht verlieren will. Ich frage mich: wozu? Natürlich kann man lernen, Klaviersonaten perfekt vom Blatt zu spielen. Aber die wahre Kunst liegt in der Improvisation. That’s Jazz, that’s Rock!
Brauchen wir gedrillte Menschen? Nein. Aber China ist damit doch erfolgreich! Ja, weil es echte Ideen und Innovationen importiert und kopiert. Chinas Kapital sind seine billigen Wanderarbeiter und seine fleißigen Wissensarbeiter, die sich Kenntnisse schnell aneignen können. Aber ohne den Import von Innovationen und intellektuellem Potential aus dem Westen wäre China auch wirtschaftlich ein Zwerg. Es gibt dort keine kritische Masse einer Intelligenz, die diesen Namen wirklich verdient und einen innovativen Schmelztigel bildet. Ganze Forschungsinstitute sind in China lediglich mit dem Kopieren westlicher Technik beschäftigt.
Erfolg erwächst aus Leidenschaft
Freiheitlichen Gesellschaften ist eigen, dass sie keine Idealzustände kennen. Es gibt keine Ideologie des idealen Menschen. Das erzeugt Vielfalt, das erzeugt Diversität und Dynamik. Nicht zuletzt diesem Umstand verdankt der westliche Kapitalismus sein enormes Wachstums- und Veränderungspotential. Das bringt auch Konflikte und Krisen mit sich. Aber ein physikalisches Gesetz sagt, dass Reibung Wärme erzeugt. Aus diesem Stoff ist Kreativität, in dem Konglomerat unterschiedlichster Interessen und Kompetenzen entstehen Innovationen. Auf diese Weise erfinden sich freiheitliche Gesellschaften fortwährend neu. Und genau das ist unser Kapital.
Erfolg wächst in eine freiheitlichen Gesellschaft nicht auf Drill, sondern auf Leidenschaft. Und die kann nur entstehen, wenn wir das Streben nach Glück als zentrales Wesensmerkmal freier Menschen respektieren. Nicht umsonst hat Glück in den USA Verfassungsrang. Motivation entsteht dort, wo Menschen ihr eigenes Glück gestalten können. Und daraus entsteht Erfolg, wenn sie Zukunft mit anderen gemeinsam zu steuern in der Lage sind. Die Alternative zum oft kritisierten Laissé faire ist nicht Drill, sondern das Setzen von Gestaltungsrahmen. Das sind unsere Werte und Ziele. Das schafft Grenzen, aber auch Orientierung. Und die braucht jede Gesellschaft, die braucht jedes Individuum. Beliebigkeit ist kein Synonym für Freiheit.
Von Pädagogen kam die Kritik, Amy Chuas Erziehung würde schon aus Kindern Manager machen. Wirklich? Was sind das für Manager? Was können wir mit angepassten, kritiklosen Menschen im Management anfangen, die nach oben buckeln und nach unten treten? Manager müssen mehr denn je gestalten können. Bloße Verwalter haben wir genug. Und wir brauchen auch keine kritiklosen Mitarbeiter, die wie die Ameisen übertragene Arbeiten nur emsig abarbeiten. Wir brauchen Menschen, die mitdenken, die Ideen einbringen und die eigenverantwortlich arbeiten können. Moderne Gesellschaften sind lernende Systeme, keine Maschinen.
Wenn wir beugsame Intelligenzroboter wollen, dann ist der maoistische Erziehungsstil von Amy Chua genau richtig. Uns sollte allerdings zu denken geben, dass man in China die Defizite seines Bildungssystems selbst erkannt hat. Interessanterweise hat auch Amy Chua das wohl begriffen, indem sie feststellt, dass Erfolg nicht alles ist. Ihre zweite Tochter rebellierte als Jugendliche gegen die Mutter, widersetzte sich ihrem Druck. Die Mutter kapitulierte schließlich, weil sie Angst hatte, die Tochter zu verlieren. Sie sei eigentlich eine Hasenmutter geworden, sagte sie in einem Fernsehinterview. Das Glück ihrer Tochter sei ihr wichtiger gewesen. Wohl denn, dann besteht ja Aussicht auf Bewährung.
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Constantin Sander
Change – Bewegung im Kopf
Ihr Gehirn wird so, wie Sie es benutzen.
Der Autor
Dr. Constantin Sander hat acht Jahre Forschung und neun Jahre Marketing und Vertrieb als Background. Er ist Business-Coach in Heidelberg. Kürzlich hat er sein Debüt als Buchautor präsentiert: „Change! Bewegung im Kopf“, ist Ende Mai bei BusinessVillage erscheinen.