Unsicherheiten um Brexit bleiben bestehen“

Der aktuelle Neuwirth Finance Zins-Kommentar

Für die Einigung auf ein bilaterales Handelsabkommen haben Großbritannien und die EU noch Zeit bis Ende diesen Jahres. Dann läuft die Übergangsfrist ab und ein trauriges Kapitel europäischer Geschichte nimmt sein Ende. Für den Ausgang der Verhandlungen sind zwei Hauptszenarien relevant. Entweder verständigen sich Großbritannien und die EU auf ein integratives Europa mit einer verflochtenen Wirtschaft und gemeinsamen Standards (weicher Brexit) oder beide Parteien beschließen getrennte Wege zu gehen ohne irgendein gemeinsames Handelsabkommen (harter Brexit).

Welches Szenario eintreten wird ist bisher unklar. Laut einer Umfrage von Deloitte und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit 248 Unternehmen rechnen 30 Prozent mit einem harten Brexit und 26 Prozent mit einem umfassenden Handelsvertrag. Weitere 18 Prozent rechnen mit einem reinen Basisabkommen und die restlichen 25 Prozent mit einer Verlängerung der Übergangsfrist. Das höchste Konfliktpotential sehen die Unternehmen in der Forderung der EU nach fairem Wettbewerb (58 Prozent), gefolgt von den Themen Steuern (45 Prozent) und Subventionen (43 Prozent). Ob am Ende ein verbindliches Abkommen zu Stande kommt oder nicht, wird die europäische Wirtschaft und deren Struktur maßgeblich beeinflussen. Doch schon jetzt zwingt die große Unsicherheit über den Ausgang der Verhandlungen Unternehmen Investitionen zurückzustellen und verschiedene Strategien zu entwickeln, um am Ende des Jahres entsprechend reagieren zu können.

Beide Szenarien (weicher und harter Brexit) haben unterschiedliche Konsequenzen mit unterschiedlicher Tragweite. So besteht das größte Risiko eines harten Brexits in dem Zerfall Europas durch das Unabhängigkeitsbestreben anderer Länder, der durch den zunehmenden Rechtsdruck noch befeuert wird. Ebenso ist ein Einbruch des Handelsaufkommens zwischen Großbritannien und der EU zu befürchten, der Arbeitsplätze in beiden Regionen gefährden könnte. Ein weicher Brexit würde den geringsten wirtschaftlichen und sozialen Schaden mit sich tragen. Insgesamt ist dem Wirtschaftsstandort Europa ein umfängliches Freihandelsabkommen zu wünschen, welches die globale Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Amerika und China stärkt. Als Vorbild könnten die Abkommen der EU mit Norwegen oder der Schweiz dienen.

Deutschland hat mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli die Chance maßgeblich die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zu Großbritannien zu moderieren und zu gestalten. Ein erfolgreicher Verhandlungsausgang mit umfassenden Freihandelsabkommen stärkt die europäische Wirtschaft und macht damit wieder Hoffnung auf eine baldige Entspannung der ökonomischen Lage. Die Bewältigung der derzeitigen Krise rund um Covid-19 ist und bleibt ein enormer Kraftakt, der durch zähe und langwierige Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Großbritannien in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Am Ende bleibt Boris Johnson unberechenbar, weshalb es bis zum Ende spannend bleiben wird.

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