Steigende Divergenzen in Euroland?

Der aktuelle Neuwirth Finance Zins-Kommentar
Schon währen der Eurokrise 2012 wurden die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Verfassung sichtbar. Doch mit der Krise rund um Covid-19 scheinen die Divergenzen weiter zuzunehmen, obwohl eine Harmonisierung der europäischen Wirtschaft eine zentrale Herausforderung für die EU darstellt. Insbesondere die südeuropäischen Staaten tragen größeren ökonomischen Schaden durch die Pandemie, als der Rest Europas. Erfahren Sie in der heutigen Ausgabe des Zinskommentars worauf diese Entwicklung zurückzuführen ist und, ob einige Länder den Anschluss verlieren könnten.

Kurzfristiger Zins: Der 3-Monats-Euribor stieg bis Mitte März auf – 0,161% und fällt seit Anfang Mai auf aktuell – 0,443%. Die überdurchschnittlich starke Kapitalnachfrage von staatlicher und nichtstaatlicher Seite hat sich wieder gelegt. Bis Ende 2020 erwarten wir wieder einen leichten Zinsrückgang in Richtung – 0,50%.

Langfristiger Zins: Der 10jährige SWAP-Satz/3M steht derzeit bei – 0,25%. Mit Sicht auf die nächsten 6-12 Monate rechnen wir eher weiterhin mit negativen, 10-jährigen SWAP-Sätzen.

Steigende Divergenzen in Euroland?
Wie groß die Divergenzen zwischen den einzelnen Mitgliedsländern sind, lässt sich anhand von Daten der EU-Kommission ablesen. Diese veröffentlichte Anfang Juli ihre alljährliche Sommerprognose zu der wirtschaftlichen Entwicklung Europas. Demnach wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Italien, Frankreich, Portugal und Kroatien in diesem Jahr um mehr als 10 Prozent schrumpfen, während der Rest Europas unter der Zehn-Prozent-Marke bleibt (siehe Abbildung 1). Für die gesamte EU erwartet die EU-Kommission ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von -8,3 Prozent in diesem Jahr und von +5,8 Prozent im nächsten Jahr. So wird auf eine schwere Rezession eine schnelle wirtschaftliche Erholung erwartet. Doch worauf beruhen die Unterschiede innerhalb der EU und werden sich alle Mitgliedsländer vollständig und gleichmäßig regenerieren können?

Abbildung 1: Sichtbares Nord-Süd-Gefälle für das Wirtschaftswachstum 2020

Quelle: EU-Kommission

Zum einen stehen die Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa in Zusammenhang mit den Infektionszahlen und den damit einhergehenden Einschränkungen und Restriktionen. Spanien (~260,000), Italien (~244,000) und Frankreich (~212,000) haben immer noch die meisten Infektionsfälle in Europa und mussten somit umfassendere und langfristigere Restriktionen einführen, als andere Staaten Europas, wie z.B. Deutschland.  Das führte zu einer stärkeren Beeinträchtigung der dort ansässigen Unternehmen. Hinzu kommt, dass die Mittelmeerstaaten über einen ausgeprägten Tourismussektor verfügen, der durch die Pandemie fast vollständig zum Erliegen kam.

Vertraut man den Vorhersagen der EU-Kommission werden Italien, Spanien und Portugal es nicht schaffen den wirtschaftlichen Schaden im nächsten Jahr weitestgehend auszugleichen (Vgl. Abbildung 2). So geht die EU-Kommission davon aus, dass die italienische Wirtschaft in diesem Jahr um über 11 Prozent schrumpft, aber im nächsten Jahr lediglich um 6,1 Prozent wächst. Jedoch muss jeder verlorene Prozentpunkt durch einen stärkeren Zuwachs ausgeglichen werden, um auf das Ursprungsniveau zu kommen. So müsste Italiens Wirtschaft im nächsten Jahr um 12,6 Prozent wachsen, um den Verlust von 11,2 Prozent aus dem Vorjahr auszugleichen. Daraus ergibt sich eine Restdifferenz von 6,5 Prozent, die bis dato verloren bleibt (Vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Welches Land wird sich wie erholen?

Quelle: EU-Kommission, eigene Darstellung und Berechnung

Woran es liegen könnte, dass die am stärksten betroffenen Länder es auch am schwierigsten haben wieder Fuß zu fassen, wird aus dem Bericht der EU-Kommission nicht deutlich. Ein Grund könnte sein, dass die Tourismusbranche nur langsam wieder anziehen wird, da viele Reisende eine Infektion im Urlaub vermeiden möchten. Ebenso könnten einige Investoren eine zweite Infektionswelle in zuvor stark betroffenen Gebieten befürchten. Die Prognose, dass die Eurokrisenländer (u.a. Spanien, Italien und Portugal) Schwierigkeiten haben werden sich von der Covid-19 Pandemie zu erholen, spricht für die Existenz von tiefgreifenden strukturellen Problemen, die so schnell wie möglich beseitigt werden sollten. Ansonsten werden sich Nord- und Südeuropa weiter wirtschaftlich voneinander entfernen und damit den transnationalen Zusammenhalt gefährden. Erst kürzlich konnten sich die EU-Mitgliedsländer nach zähen Verhandlungen auf ein Rettungspaket von über 390 Milliarden Euro einigen. Zwar erfordert die derzeitige Situation Solidarität mit den betroffenen Ländern auch in Form von finanziellen Zuwendungen, jedoch müssen endlich Maßnahmen getroffen werden, welche die Wirtschaft der südeuropäischen Staaten widerstands- und leistungsfähiger machen. Das liegt im Interesse ganz Europas.

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