Die agilen Arbeitsweisen und -methoden werden oft als das Zaubermittel präsentiert, um Unternehmen zukunftsfit zu machen. In der betrieblichen Praxis ist eine differenziertere Betrachtung nötig.
In Managementkreisen wird zur Zeit lebhaft darüber diskutiert, inwieweit sich die agilen Arbeitsweisen und -methoden, die ihre Wurzeln fast alle in der Softwareentwicklung haben, skalieren, also auf andere Tätigkeitsfelder oder gar ganze Unternehmen übertragen lassen. Die Unternehmen versprechen sich hiervon, in der von rascher Veränderung geprägten VUKA-Welt, in der immer häufiger „Schwarze Schwäne“ – also unvorhersehbare Ereignisse wie der Brexit oder das Corona-Virus – ihre Planungen obsolet machen, eine Möglichkeit, flexibler auf Marktveränderungen zu reagieren. Und die Beraterzunft? Sie verspricht sich hiervon mehr Business, als wenn die agilen Methoden zum Beispiel nur im IT- und F&E-Bereich eingeführt werden, da es sich bei der sogenannten agilen Transformation der Unternehmen letztlich um komplexe Change-Projekte handelt.
Die wichtigsten agilen Prinzipien
Doch ist ein Übertragen der agilen Methoden und Arbeitsweisen auf weite Teile einer Organisation oder ganze Unternehmen überhaupt möglich und sinnvoll? Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, was die zentralen Elemente bzw. Prinzipien der agilen Methoden sind:
- Eine konsequente Ausrichtung der Projekt- und Alltagsarbeit auf die Bedürfnisse der Kunden.
- Eine weitgehende Übertragung der Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter bzw. Teams, so dass diese eigenverantwortlich handeln können, und eine entsprechende Führung.
- Eine bereichs- und funktionsübergreifende Zusammenarbeit z.B. in Scrum- oder Entwicklerteams, in denen alle nötigen Kompetenzen vertreten sind, um das übergeordnete Ziel zu erreichen.
- Eine inkrementelle Arbeitsweise, bei der komplexe Vorhaben, geleitet von einer Vision, schrittweise, in sogenannten Sprints geplant werden und den Kunden im Projektverlauf regelmäßig Inkremente, also Teillösungen, ausgeliefert werden, zu denen diese bereits Feedback geben.
- Ein iteratives Vorgehen, bei dem in den Gesamtprozess immer wieder Reflexionsschleifen eingebaut sind, um aus den bereits gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnissen Schlüsse für das weitere Vorgehen zu ziehen.
Für Profis sind die agilen Prinzipien meist nicht neu
Die vorgenannten agilen Prinzipien sind nicht neu. Sie korrespondieren weitgehend mit den Maximen, von denen sich die Organisationsentwickler in den Unternehmen auch in der Vergangenheit bei ihrer Arbeit leiten ließen. So wird zum Beispiel die konsequente Ausrichtung der Projekt- und Alltagsarbeit auf die Bedürfnisse der Kunden in fast allen Managementsystemen propagiert, die in den letzten drei, vier Jahrzehnten en vogue waren – unabhängig davon, ob diese KVP, TQM, Kaizen, Six Sigma oder Lean Management hießen.
Ähnlich verhält es sich bezogen auf die geforderte Übertragung der relevanten Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter und Teams, so dass diese im Arbeitsalltag eigenverantwortlich handeln können. Auch sie ist ein zentrales Element aller genannten Managementsysteme ebenso die Forderung „Die Führungskräfte müssen sich primär als Befähiger und Ermächtiger ihrer Mitarbeiter verstehen“. Auch diesbezüglich wurden in vielen Unternehmen schon zahlreiche Initiativen ergriffen – wenn auch oft ohne den gewünschten Erfolg.
Unternehmensentwicklung ist ein Prozess
Diese Historie sollte man sich in Erinnerung rufen, wenn man insbesondere in größeren gewachsenen Organisationen über das Thema Agile Skalierung spricht. Sonst besteht die Gefahr, dass man im Zuge der Diskussion über das Thema agile Transformation zum Beispiel Zerrbilder im Bereich Führung und Zusammenarbeit in Unternehmen entwirft, die nicht mehr der betrieblichen Realität entsprechen, weshalb sie bei den Betroffenen, die als Mitstreiter gewonnen werden sollen, Widerstand produzieren.
Denn selbstverständlich wird heutzutage zumindest in den Kernbereichen der meisten Unternehmen nicht mehr nach dem klassischen Befehl-Gehorsam-Prinzip geführt – auch wenn die Führungskräfte noch oft Kompetenzdefizite im Bereich Führung aufweisen. Ähnlich verhält es sich bezüglich der bereichs- und funktionsübergreifenden Zusammen- und Teamarbeit. Auch sie ist in den meisten Betrieben geübte Praxis, auch wenn hier unter anderem aufgrund der weiterhin bestehenden hierarchischen Struktur noch viele ungenutzte Potenziale ruhen. Deshalb sollten Unternehmen, die ihre Agilität, also Reaktionsgeschwindigkeit und Effektivität erhöhen möchten, durchaus ihre Struktur und Kultur überdenken; außerdem ihre Auswahlkriterien für Führungskräfte und sich zum Beispiel fragen: Sind die Kandidaten die bereichsübergreifenden Team- und Networker, die wir künftig brauchen?
Ein inkrementelles Vorgehen ist oft nicht möglich
Etwas anders verhält es sich bezogen auf das Prinzip einer inkrementellen Arbeitsweise, bei der den Kunden im Prozess- oder Projektverlauf regelmäßig sogenannte Inkremente ausgeliefert werden. Diese ist bei komplexeren Vorhaben durchaus erstrebenswert. Doch ist eine solche Arbeitsweise in allen Branchen und Unternehmensbereichen realisierbar? Bei der Entwicklung und Produktion von Software ja. Ein IT-Unternehmen oder -Bereich kann an seine Kunden durchaus die Alpha-Version einer Software ausliefern und zu ihnen sagen: „Arbeitet schon mal damit und sammelt damit Erfahrung; die Beta-Version der Software wird dann auch die Funktionen a, b und c enthalten.“ Und wenn im laufenden Betrieb schwerwiegende Bugs auftreten? Dann ist dies in der Regel auch kein Problem, denn bei den meisten Großunternehmen laufen bei Einführung einer neuen systemrelevanten Software die alte und die neue Software zunächst parallel, damit ein Bug nicht den gesamten Betrieb lahmlegt.
Anders verhält sich dies bei einem Autohersteller. Er kann zu seinen Kunden nicht sagen: Ich liefere euch schon mal den Motor zum Ausprobieren. In drei Monaten folgen dann die Kupplung und Bremse, und in sechs Monaten flanschen wir das Lenkrad dran.“ Er kann sich zudem Bugs beim Betrieb nicht leisten – zumindest wenn er teure Rückrufaktionen und Schadensersatzklagen vermeiden möchte. Ähnlich verhält es sich bei fast allen industriell gefertigten Gütern. Deshalb stellt sich bezogen auf ihre Produktion die Frage: Inwieweit ist bei ihr eine inkrementelle Arbeitsweise überhaupt möglich (und nötig) und wenn ja, was bedeutet ein agiles Arbeiten in diesem Kontext?
Auch das iterative Vorgehen ist nicht neu
Bliebe als letztes agiles Prinzip das iterative, schrittweise Vorgehen, bei dem bei komplexen Vorhaben in den Prozess immer wieder Reflexionsschleifen eingebaut sind, um aus den gesammelten Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnissen Schlüsse für das weitere Vorgehen abzuleiten. Auch dieses ist nicht neu! Wozu dienten denn in der Vergangenheit die Meilensteine in Projekten? Unter anderem dazu, um bei ihrem (Nicht-)Erreichen zu überprüfen: Sind wir (noch) auf dem richtigen Weg, das Ziel zu erreichen, oder sollten wir unsere Planung ändern? Ein Projektmanager bzw. Projektteam, das dies nicht tat, war entweder unfähig oder nahm seinen Job nicht wahr.
Ähnlich verhielt es sich im B2B-Vertrieb, wenn ein Vertriebsteam nicht selten in monate-, teils sogar jahrelanger mühsamer Kleinarbeit versuchte, beispielsweise eine Maschinenanlage zu verkaufen. Auch dann waren in diesen Prozess selbstverständlich Reflexionsschleifen eingebaut, in denen sich die Mitglieder des Vertriebsteams zum Beispiel fragten: Welche neuen Erkenntnisse haben wir bei unserem jüngsten Meeting mit dem Buying-Team auf Kundenseite gewonnen? Was heißt dies für unser weiteres Vorgehen? Und, und, und?
Herausforderung: Die Mitarbeiter als Mitstreiter gewinnen
Obige Ausführungen zeigen: Es gibt zwar neue agile Methoden und Arbeitsweisen, doch die agilen Prinzipien sind nicht neu. Deshalb wirkt es im betrieblichen Kontext oft kontraproduktiv im Zuge der Diskussion über die agile Transformation der Unternehmen deren Leistungsträger zum Beispiel mit der Forderung zu konfrontieren „Euer Mindset muss sich radikal ändern“, denn dies erfahren sie als Kritik an ihrer bisherigen Arbeit und produziert Widerstand bei ihnen.
Zielführender ist es, wenn man als Führungskraft oder Projektmanager
- ihre bereits vorhandenen zielführenden Verhaltensweisen lobt und verstärkt,
- sie dazu motiviert und inspiriert, ihre nicht zielführenden Einstellungen und Verhaltensmuster zu überdenken, und
- die erforderlichen Rahmenbedingungen schafft, dass sie neue, zielführende Verhaltensweisen zeigen (können).
Hierin zeigt sich letztlich auch, inwieweit eine Führungskraft ein Ermächtiger und Befähiger ihrer Mitarbeiter ist.
Bei der agilen Skalierung differenziert vorgehen
In der Regel befassen sich Unternehmen mit dem Thema Skalierung der agilen Methoden erst, wenn in ihrer Organisation bereits ein, zwei Bereiche – zum Beispiel die IT oder Forschung – positive Erfahrungen mit dieser Arbeitsweise gesammelt haben. Der Vorteil hiervon ist: Dann existieren schon Mitarbeiter, die ihren Kollegen von ihren Erfahrungen mit den agilen Methoden berichten und ihnen erläutern können, warum eine Beschäftigung mit ihnen auch für die anderen Bereiche oder gar die gesamte Organisation sinnvoll sein könnte.
Ein erster Schritt in Richtung Agile Skalierung kann es dann sein, Workshops mit den Entscheidern in den relevanten Bereichen durchzuführen. Diese können wie folgt konzipiert sein: Zunächst erläutern Vertreter des Managements, warum sich das Unternehmen überhaupt mit dem Thema Agile Skalierung befasst und was es sich von einer Steigerung der Agilität verspricht. Danach erläutern Experten an Praxisbeispielen die Prinzipien einer agilen Arbeitsweise, bevor Kollegen aus den Bereichen, die bereits agil arbeiten, über ihre Erfahrungen mit den neuen, agilen Methoden berichten.
Nachdem so ein agiles Bewusstsein geschaffen wurde, kann mit den Vertretern der Bereiche ermittelt werden:
- Inwieweit in ihren Bereichen das Einführen agiler Arbeitsweisen überhaupt möglich und zielführend wäre?
- Wenn ja, worin würde sich die gewünschte Agilität in der Alltagsarbeit zeigen?
- Welche Veränderungen wären auf der Kultur- und Strukturebene sowie Einstellungs- und Verhaltensebene für die angestrebte Veränderung nötig? Und:
- Auf welche in der Vergangenheit ergriffenen Initiativen könnte aufgebaut werden, um das angestrebte Ziel zu erreichen?
Letzteres ist auch wichtig, um den Mitarbeitern die lähmende Angst zu nehmen, alles muss und wird sich ändern – denn dies ist in der Praxis meist nur in Teilen der Organisation der Fall.
Einen Entwicklungsplan für alle Bereiche entwerfen
Die Ergebnisse der Workshops können bezogen auf die einzelnen Bereiche sehr unterschiedlich sein. Dabei gilt jedoch die Faustregel:
- Je komplexer die Leistungen sind, die ein Bereich oder Team für das Unternehmen bzw. seine Kunden erbringt, und
- je mehr externe Einflussfaktoren, dabei zu berücksichtigen sind,
umso höher ist Wahrscheinlichkeit, dass ein agiles Arbeiten zielführend ist und umso größer ist der Nutzen einer Einführung der agilen Methoden für die Organisation.
Das Ergebnis eines solchen Workshops kann bezogen auf die weitgehend automatisierte Produktion eines Massengüterherstellers durchaus lauten: Ein Einführen der agilen Methoden in unserer Produktion lohnt sich nicht, weil es in ihr weitgehend darum geht, zuverlässig ein- und dasselbe Produkt zu produzieren, das den Kundenanforderungen entspricht. Stattdessen sollten wir die bereits ergriffenen Initiativen im KVP- und Lean-Bereich forcieren, die darauf abzielen, die Qualität der Leistung kontinuierlich zu verbessern. Zudem sollten wir unsere Führungskräfte auf der Shopfloor-Ebene zu Kata Coaches ausbilden, die die Kompetenz ihrer Mitarbeiter erhöhen, eigenständig Probleme zu erkennen und zu lösen. Darüber hinaus sollten wir jedoch das Bewusstsein der Mitarbeiter dafür schulen, warum ein agiles Verhalten in unserem von rascher Veränderung geprägten Markt nötig ist, denn dann haben sie mehr Verständnis dafür, dass zum Beispiel die Vertriebsmitarbeiter sie immer wieder mit Sonderwünschen kontaktieren.
Bezogen auf die Produktentwicklung kann das Workshop-Ergebnis lauten: Hier sollten wir das agile Arbeiten forcieren, weil sich außer den Anforderungen der Kunden auch die technischen Möglichkeiten von uns und unseren Kunden rasch ändern. Zudem sollten wir die Zusammenarbeit unserer Produktentwickler außer mit dem Vertrieb, auch mit unserem Kundendienst stimulieren zum Beispiel durch entsprechende interdisziplinäre (Entwickler-)Teams, denn: Unsere Servicemitarbeiter bekommen bei ihren Kundenbesuchen am ehesten mit,
- was unsere Kunden an unseren Produkten und Problemlösungen schätzen oder nicht und
- wo bei ihnen neue Bedarfe entstehen.
Die jeweiligen Besonderheiten beachten
Die obigen Ausführungen sollen zeigen: Wenn es um das Thema „agile Skalierung“ geht, ist es wenig sinnvoll, die betreffenden Methoden sozusagen mit der Gießkanne über die gesamte Organisation auszuschütten. Dafür sind die Aufgaben der Bereiche und deren Ausgangsvoraussetzungen zu verschieden. Vielmehr gilt es, ein abgestimmtes Gesamtkonzept zu entwerfen, das ausgehend vom übergeordneten Ziel „Wir wollen als Unternehmen agiler am Markt agieren, damit wir auch künftig erfolgreich sind“ die Arbeit in den einzelnen Bereichen sowie ihre Kooperation gezielt entwickelt – und hierbei können die agilen Arbeitsweisen und -methoden eine unterschiedliche Rolle spielen.
Dr. Georg Kraus
Zum Autor: Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal.