Experten-Interview: „Die Fiskalpolitik ist bei der Ökonomie im Fahrersitz“

Als Vertreter der Modernen Geldtheorie fordert Dirk Ehnts eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Diese sollte sich weniger auf niedrige staatliche Defizite konzentrieren und stattdessen Ziele wie Vollbeschäftigung und nachhaltigen Ressourceneinsatz in den Fokus nehmen. Im Interview erklärt er die Theorie und gibt politische Handlungsempfehlungen.

Financial technology concept. FinTech. Foreign exchange.

Herr Ehnts, im Zuge der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie haben Staaten weltweit ihre Ausgaben massiv erhöht. Stehen wir am Anfang einer neuen Ära der Wirtschaftspolitik?

Ja. Es geht dabei um eine kopernikanische Wende, nicht um eine Reform des Geldsystems. Eine Bundesregierung mit eigener Währung kann sich nicht durch Steuern oder Staatsanleihen finanzieren – sie ist Schöpfer der Währung und sowohl Steuereinnahmen wie auch die Einnahmen aus den Verkäufen aus Staatsanleihen sind Rückflüsse bereits verausgabter Währung.

Also keine Änderung des Systems, nur der Perspektive?

Das Universum ist so wie vorher, nur wir verstehen jetzt, dass die Zentralbank nicht im Zentrum ist, sondern dass diese nur vom Staat das Geldmonopol bekommt und dass die Zinspolitik, die ja eigentlich die Inflationsrate kontrollieren soll, das nicht kann. In den 2010er-Jahren hat die Inflationsrate fast nie den Wert von knapp 2 Prozent erreicht, die sie erreichen sollte. Und es war auch klar, warum. Mario Draghi hat immer wieder gesagt: Wir brauchen eine fiskalisch expansive Politik, also Staatsausgaben hoch oder die Steuern runter, aber bitte da, wo die Leute das Geld auch ausgeben.

Es ist ein bisschen wie im Vorspann zu den Simpsons: Da sitzt Marge im Auto mit Maggie. Und Maggie hat ein kleines Spielzeuglenkrad und hupt und dreht am Lenkrad. Und man denkt auch erst, dass sie das Auto fährt. Dann sieht man aber, als die Kamera rauszoomt, dass es Marge ist. Genauso sehen wir jetzt: Die Fiskalpolitik ist bei der Ökonomie im Fahrersitz.

Wie beurteilen Sie die Fiskalpolitik der letzten Dekade?

Die deutsche Bundesregierung hat in den 2010er-Jahren die Staatsausgaben immer um drei bis vier Prozent erhöht und damit einen Boom ausgelöst, der dann ganz ohne restriktive Wirtschaftspolitik zu Ende gegangen ist. Warum? Weil wir im Aufschwung mehr Mehrwertsteuern zahlen, mehr Lohnsteuern abführen, die Unternehmen mehr Steuern abführen und irgendwann haben wir die schwarze Null. Der Aufschwung ist zu Ende gegangen durch das Gebaren des Staates, der die schwarze Null als Erfolg gefeiert hat, anstatt zu erkennen, dass das irgendwann nicht mehr gut geht.

Das ist, als würde ich Monopoly spielen und immer, wenn ich über Los ziehe, muss ich 200 Euro zahlen. Das Geld verschwindet aus dem privaten Sektor schneller an den Staat, als der es wieder reinschießt. Man kann sich das so vorstellen: Wenn der Staat Geld ausgibt, druckt er das neu, und wenn der Staat Steuern, also Geld, einsammelt, dann verbrennt er das. Dann ist das Spiel irgendwann zu Ende. Es ist eigentlich seltsam, dass kaum jemand darüber schreibt, dass wir einen ganz komischen Konjunkturzyklus hatten. Der war nämlich schon 2019 zu Ende, kurz vor Corona.

Sie gelten als einer der führenden Vertreter der Modernen Geldtheorie in Deutschland. Was kann man sich darunter vorstellen?

Wir sind eine akademische Schule. Natürlich sind wir in einigen Fragen auch unterschiedlicher Meinung, aber wir haben einen gewissen Standard entwickelt.

Aus der Perspektive der Modernen Geldtheorie: Woran sollte sich eine nachhaltige Wirtschaftspolitik messen müssen?

Vollbeschäftigung, Preisstabilität, nachhaltiger Ressourceneinsatz. Kurz und knapp: Die Staatsausgaben werden auf ein Niveau angehoben, das fast Vollbeschäftigung erzeugt. Die Zentralbank belässt den Zins bei null, weil er eh keinen Einfluss auf die Investitionen hat. Die Jobgarantie beseitigt den letzten Rest an unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Die automatischen Stabilisatoren sorgen dafür, dass der Aufschwung nicht zu inflationär wird.

In der Eurozone kann die Europäische Zentralbank (EZB) den Ankauf von Staatsanleihen einzelner Mitgliedsstaaten an Bedingungen knüpfen. Ist das im Sinne einer monetären Gewaltenteilung?

Der Euro ist ein großes Experiment. Dass eine Währung von den Nationalstaaten gelöst wird, hatten wir vorher noch nicht. Komischerweise ist es nun so, dass alle nationalen Zentralbanken in der Eurozone Euros erzeugen können. Und wir können die Bedingungen herstellen, dass alle Regierungen an Geld kommen, wie es jetzt gerade ist. Wir können es aber auch so machen wie 2010, als die EZB gesagt hat, wenn die Investoren die Staatsanleihen von Griechenland nicht haben wollen, dann ist das deren Pech. Dann kommt die griechische Regierung irgendwann nicht mehr an Geld.

Dazu muss man wissen, wie staatliche Ausgaben funktionieren. Aus technischer Sicht ist es so: Wenn die Regierung Geld ausgibt, zum Beispiel überweist sie mir einen Betrag, dann schreibt die Bundesbank meiner Bank das Konto hoch. Das wird mit dem Computer gemacht und wir wissen ja: Wenn man mit dem Computer Zahlen erzeugt, etwa bei einem Videospiel, dann ist die Frage, wo die Zahlen herkommen, unsinnig. Es ist ein Spielstand.

Wie sollte man nun die politischen Regeln setzen in einem Währungssystem? Wenn man sich den Artikel 20 des Grundgesetzes ansieht, steht da: Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Dann müsste daraus auch folgen, dass wenn die Bundesregierung Renten bezahlen oder Kindergeld überweisen möchte, das funktionieren muss. Alles andere wäre undemokratisch.

Laut dem Datenreport 2021 des Statistischen Bundesamts hat die Pandemie zu einer Vergrößerung der Ungleichheit in Deutschland geführt. Was würden Sie in dieser Situation der Politik raten?

Steuersätze verändern, Löhne unten erhöhen, Löhne oben kappen, mehr Wettbewerb erzeugen, Gewerkschaften stärken, Lobbyeinfluss reduzieren… Man könnte sich auch eine Jobgarantie denken: Dass man sagt, wir versuchen die unfreiwillige Arbeitslosigkeit zu reduzieren, indem wir den Leuten, die es trifft, ein Arbeitsangebot machen. Aber diese Garantie wäre das letzte Stück des Puzzles, damit sollte man nur das aufsaugen an Arbeitslosigkeit, was noch da ist.

Eine Erhöhung der Staatsausgaben ist nicht Teil dieser Liste.

Staatsausgaben können dazu beitragen, die Verteilungssituation zu verbessern. Aber die Höhe der Staatsausgaben ist nicht mechanisch zu interpretieren. Staatsausgaben hoch heißt nicht automatisch, dass mehr Beschäftigung entsteht. Die Ungleichheitsforschung hat es überhaupt nicht auf dem Schirm, dass der Staat durch seine Ausgaben die Machtverhältnisse zementiert. Denken Sie an die USA, wo der militärisch-industrielle Komplex wahrscheinlich knapp ein Viertel der Staatsausgaben abbekommt. Kein Wunder, dass die dann viel Macht haben und hohe Löhne zahlen können.

Der aktuell ausgesetzte europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt schreibt eigentlich eine maximale Staatsverschuldung von 60 Prozent des BIP vor. Gibt es Ihrer Ansicht nach eine Grenze, die die Schulden eines Staates nicht übersteigen sollten?

Nein. Aber es gibt eine Grenze, die dadurch erzeugt wird, dass wir mehr Geld ausgeben, wenn der Staat uns mehr Geld gibt. Eine Staatsverschuldung von 1000 Prozent ist daher so gut wie unmöglich. Nur bei extrem hoher Ungleichheit wäre das möglich.

Macht es überhaupt Sinn, im staatlichen Kontext von „Schulden“ zu sprechen?

Nein. Wir können unsere Schulden zurückzahlen, der Staat kann das nicht. Wenn er seine Verschuldung reduzieren möchte, muss er warten, bis sein Geld durch Steuerzahlungen wieder zu ihm zurückkehrt. Statt „Staatsverschuldung“ könnten wir von „im Besitz des privaten Sektors befindliche Steuergutschriften“ sprechen. Denn letztlich verspricht uns der Staat nur, dass er sein Geld für Steuerzahlungen akzeptiert.

Zur Person

Dr. Dirk Ehnts ist einer der führenden Vertreter der Modernen Geldtheorie (Modern Money Theory, MMT) in Deutschland. Er ist Vorsitzender der Pufendorf Gesellschaft und war zuletzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für europäische Wirtschaft an der TU Chemnitz tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Geldtheorie und Makroökonomie.

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