Ein digitaler Hidden Champion werden

In digitalen Nischenmärkten können Mittelständler ihre klassischen Stärken ausspielen. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass in den kommenden Jahren in der DACH-Region viele Hidden Champions entstehen.

„Deutschland, Österreich und die Schweiz haben die Digitalisierung verschlafen“. Diese Aussage hört man oft, doch sie stimmt nur halb. In der ersten Phase der Digitalisierung, in der die neue digitale Infrastruktur geschaffen wurde, liegen internationale Konzerne zwar gefühlt uneinholbar vorne. Doch in der nächsten Phase der Digitalisierung kann die Wirtschaft im deutschsprachigen Raum ihre Stärken ausspielen – und zwar dort, wo sie traditionell am erfolgreichsten ist: in Nischenmärkten. In ihnen können mittelständische Unternehmer hochprofitable Geschäfte aufbauen.

 

 

Viele Nischenmärkte warten auf Erschließung

 

Doch welche Märkte sind das? Unter anderem die Branchen, in denen heute noch weitgehend nach den analogen Prinzipien der 1990er Jahre gearbeitet wird. Ein Paradebeispiel hierfür ist die öffentliche Verwaltung, wie die Corona-Pandemie zeigt. Aber auch in der privaten Wirtschaft lässt sich eine schier endlose Zahl potenzieller lukrativer Nischenmärkte identifizieren. Davon ist Dr. Jens-Uwe Meyer, der Vorstandsvorsitzende der Innolytics AG, Leipzig, überzeugt. So zum Beispiel, wenn man als Anbieter im Digitalbereich sein Augenmerk auf Themenfelder wie die Anlagensteuerung, das Ideenmanagement oder – ganz aktuell – den Infektionsschutz richtet. Oder wenn man sich auf Zielgruppen wie Unternehmen mit einer Filialstruktur oder einem sehr hohen Personalkostenanteil spezialisiert. In solchen Nischen können hochspezialisierte Unternehmen digitale Hidden Champions werden.

 

 

Die Spielregeln in Nischenmärkten verändern

 

Dieses Ziel hat auch die Innolytics AG. Das Unternehmen entwickelt Software, die mittelständischen Unternehmen hilft, so komplexe Anforderungen wie die ISO-Norm zu erfüllen. In diesem Jahr wird sich Innolytics das Erfüllen dieser Normen durch Algorithmen zertifizieren lassen. „Das wird den Markt der Zertifizierung von Managementsystemen nachhaltig verändern“, ist ihr CEO Meyer überzeugt – „denn hierdurch wird die ISO-Zertifizierung von Managementsystemen für die knapp 3,5 Millionen Klein- und Mittelunternehmen in der DACH-Region erschwinglich und leicht handelbar.“

 

In den Online-Handel strebten in den vergangenen Jahren viele Start-ups und Konzerne mit der Vision, entweder ein Einhorn zu werden oder dort wie Amazon ein Quasi-Monopol zu schaffen. Nischen wie die Zertifizierung von Managementsystemen blieben hingegen, „zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie, von diesem digitalen Wettbewerb praktisch verschont“, betont Prof. Dr. Georg Kraus.

 

 

Das „Innovator‘s Dilemma“ überwinden

 

Der Geschäftsführer der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal, nennt dafür folgenden Grund: „Die Unternehmen, die in solchen Märkten erfolgreich waren, hatten bis zum Ausbruch der Pandemie wenig Interesse daran, ihre Geschäftsmodelle zu kannibalisieren. Sie lebten, wie zum Beispiel fast alle Unternehmensberater sehr gut von ihren Beraterhonoraren und teuren analogen Lösungen.“ Folglich bestand für sie kein Anlass, sich unter Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnik smartere und für ihre Kunden preisgünstigere Problemlösungen zu überlegen.

 

Die Unternehmen, die in solchen Märkten tätig sind, wurden durch das ausgebremst, was der US-Wissenschaftler Clayton M. Christensen das „Innovator‘s Dilemma“ nennt: Sie wissen zwar, dass eine grundlegende digitale Transformation in ihrem Markt vermutlich unumgänglich ist, doch sie wollen ihre gewohnten, lukrativen Geschäftsmodelle nicht selbst zerstören. Also verteidigen sie diese solange wie möglich.

 

 

Für Nischenmärkte gelten spezielle Spielregeln

 

Digitale Nischenmärkte erscheinen auf den ersten Blick oft klein – zumindest im Vergleich zum Billionen-Dollar-Markt für Standard-Software. Ein großes Plus von ihnen ist aber: Weil sie noch unerschlossen sind, sind in ihnen hohe Wachstumsraten möglich. Innolytics-Gründer Meyer schätzt, dass bislang maximal zehn Prozent aller digitalen Nischen besetzt sind. Vermutlich sind es weniger, weil uns Corona gerade erst die Augen dafür öffnet, in wie vielen unserer Lebens- und Arbeitsbereiche eine Digitalisierung eventuell sinnvoll wäre.

 

Für Unternehmen, die mit Speziallösungen digitale Nischenmärkte besetzen möchten, gelten aber andere Spielregeln als für Unternehmen, die wie die Konzerne Amazon und Google, Facebook und Airbnb zur sogenannten Plattform-Ökonomie zählen. „Sie müssen unter anderem bezogen auf das Geschäftsfeld ihrer Zielkunden eine sehr hohe Expertise haben“, betont der Wirtschaftsingenieur Prof. Dr. Kraus, der unter anderem Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe und der St. Gallener Business-School ist. „Auch ihre Marketing- und Vertriebsstrategie muss eine andere sein: „Sie brauchen eine Strategie, wie sie ohne ein breites Netz von Niederlassungen oder Repräsentanten zum Beispiel die mittelständische Industrie weltweit erreichen.“ Zentrale Säulen ihrer Markterschließung und -bearbeitung können das Content-Marketing und der gezielte Einsatz von Influencern sein.

 

Ein weiteres Element kann die Suche nach passenden Business-Partnern sein. Deshalb haben zum Beispiel die Innolytics-Gründer für ihr Unternehmen die Rechtsform einer Aktiengesellschaft gewählt: „Das erleichtert es uns, Investoren anzusprechen, die an nachhaltig hohen Wachstumsraten bei gleichzeitig geringem Risiko interessiert sind“, betont Meyer.

 

 

In Nischenmärkten gibt es weniger Investment-Nieten

 

Solche Anlagemöglichkeiten suchen aktuell viele private und institutionelle Investoren, weil bei Starts-ups die Faustregel gilt: Neun von zehn überleben die Gründungsphase nicht. Also suchen sie gezielt nach Start-ups mit einem gewissen Reifegrad, weil sie zwar die Chancen der Digitalisierung nutzen, aber nicht riskieren möchten, dass das Gros ihrer Investments scheitert.

Schreibe einen Kommentar