Risikozone Schifffahrt: AGCS warnt vor Corona-Spätfolgen

Die Totalverluste in der Schifffahrt sind im Jahresvergleich um mehr als 20 Prozent gesunken und befinden sich aktuell auf einem Rekordtief. Zu diesem Ergebnis kommt die neuste Studie „Safety & Shipping Review 2020“ des Industrieversicherers AGCS. Die aktuellen Entwicklungen stehen jedoch auf wackligen Beinen. Die Folgen von Corona könnten die langfristigen Sicherheitsverbesserungen in der Schifffahrt in diesem Jahr und darüber hinaus gefährden. Zudem sei die Gesamtzahl der Schadenereignisse im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.

„Das Coronavirus hat die Schifffahrtsbranche in einer für sie ohnehin schwierigen Zeit getroffen. Die Branche ist dabei, ihre Emissionen zu reduzieren, Themen wie Klimawandel, politische Risiken und Piraterie zu bewältigen und sich mit Dauerproblemen wie Bränden auf Schiffen auseinanderzusetzen“, erklärt Volker Dierks, AGCS-Experte für die Schiffs- und Transportversicherung. „Nun muss die Schifffahrt in einem völlig neuen Umfeld navigieren, in dem die Covid-19-Pandemie neue Unsicherheiten für Gesundheit und Wirtschaft schafft.“

Die Schifffahrtsbranche hat ihren Betrieb während der Pandemie weitgehend fortgesetzt – trotz Unterbrechungen in Häfen und bei dem Wechsel der Besatzungen. Während weniger Schiffsverkehr aufgrund der Coronavirus-Restriktionen zu einem Rückgang der Schadensfrequenz führen könnte, verweist die AGCS-Studie auf zehn Corona-Herausforderungen, die die Risiken erhöhen.

Darunter:

  • Das Aussetzen des turnusmäßigen Besatzungswechsels wirkt sich auf das Wohlergehen und die Leistungsfähigkeit der Crews aus, was zu einer Zunahme menschlicher Fehler führen könnte.
  • Störungen bei wesentlichen Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten erhöhen das Risiko von Maschinenschäden – diese sind schon heute eine der Hauptursachen für Versicherungsansprüche.
  • Reduzierte oder verzögerte gesetzlich vorgeschriebene Besichtigungen und Hafeninspektionen könnten dazu führen, dass unsichere Praktiken oder defekte Ausrüstung unentdeckt bleiben.
  • Ladungsschäden und Transportverzögerungen sind wahrscheinlich, da die Lieferketten unter Druck geraten.
  • Im Notfall schnell zusätzliche Unterstützung aktivieren zu können, könnte schwierig werden. Es drohen größere Zwischenfälle, die von der Besatzung nicht selbst behoben werden können.
  • Die wachsende Zahl von Kreuzfahrtschiffen und Öltankern, die weltweit aufliegen, stellt aufgrund der potenziellen Bedrohung durch extreme Wetterereignisse, Piraterie oder politische Risiken ein erhebliches finanzielles Risiko dar.

Schiffseigner sehen sich zudem mit einem zusätzlichem Kostendruck durch den Abschwung in Wirtschaft und Handel konfrontiert. „Wir wissen aus früheren Rezessionen, dass die Budgets für Besatzung und Wartung zu den ersten Bereichen gehören können, die gekürzt werden. Dies kann den sicheren Betrieb von Schiffen und Maschinen beeinträchtigen und möglicherweise Störungen oder Ausfälle verursachen, die wiederum zu Grundberührungen oder zu Kollisionen führen können. Es ist sehr wichtig, dass Sicherheits- und Wartungsstandards nicht durch wirtschaftliche Schwierigkeiten beeinträchtigt werden.“, sagt Dierks.

Meeresregion Südchina, Indochina, Indonesien und Philippinen als Unfall-Hotspot

Dem Bericht zufolge bleibt die Meeresregion Südchina, Indochina, Indonesien und die Philippinen mit 12 Schiffsverlusten im Jahr 2019 und 228 Schiffen in den letzten zehn Jahren weiterhin globaler Unfall-Hotspot.

Ein Viertel aller Verluste passieren in dieser Region. Hohes Handelsaufkommen, stark befahrene Schifffahrtswege, ältere Flotten, das Risiko von Taifunen und Sicherheitsprobleme auf einigen inländischen Fährrouten tragen dazu bei. Im Jahr 2019 gingen die Verluste jedoch das zweite Jahr in Folge zurück. Der Golf von Mexiko (4) und die westafrikanische Küste (3) stehen an zweiter und dritter Stelle der Unfall-Hotspots.

Auf Frachtschiffe (15) entfiel mehr als ein Drittel der Totalschäden im letzten Jahr. Schlechtes Wetter war für einen von fünf Verlusten verantwortlich. Probleme mit Autotransportern und Roll-on/Roll-off-(Ro-Ro)-Schiffen gehören nach wie vor zu den größten Sicherheitsproblemen in der Schifffahrt. Die Totalschäden bei diesen Schiffstypen sind im Vergleich zum Vorjahr gestiegen – zugleich haben auch die kleineren Zwischenfälle um 20 Prozent zugenommen.

„Wir sehen immer mehr und größere Schäden bei Ro-Ro-Schiffen. Das ist besorgniserregend. Diese speziellen Transportschiffe sind stärker von Feuer- und Stabilitätsproblemen betroffen als andere Schiffe“, erklärt Dierks.

Bei Ro-Ro-Schiffen wird die Ware über LKW, PKW oder Zugmaschinen direkt an Bord gerollt und entladen, ohne das ein Kran nötig wäre. Dierks habe eine Reihe von Unfalluntersuchungen ergeben, dass die vor dem Auslaufen durchgeführten Stabilitätsprüfungen entweder nicht wie vorgeschrieben durchgeführt wurden oder auf ungenauen Ladungsinformationen beruhten. „Zu oft haben kommerzielle Erwägungen Schiffe und Besatzungen gefährdet. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass eine sorgfältige Reisevorbereitung vonseiten der Landorganisation und durch die Besatzung an Bord durchgeführt werden muss“, so Dierks.

200 gemeldete Brände auf Schiffen

„Wir dürfen die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass zwar die Totalverluste deutlich zurückgegangen sind, aber die Gesamtzahl der Schadenereignisse im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist“, sagt Dierks. „Es braucht nicht viel, damit ein schwerwiegender Zwischenfall zu einem Totalschaden führt.“

Im vergangenen Jahr gab es fast 200 gemeldete Brände auf Schiffen, ein Anstieg um 13 prozent, mit fünf Totalschäden allein im Jahr 2019. Falsch deklarierte Ladung ist eine der Hauptursachen. Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Problems sind von entscheidender Bedeutung, da sich das Schadenpotenzial mit zunehmender Größe der Schiffe und mehr transportierten Gütern weiter verschlimmern dürfte. Zudem werden Chemikalien und Batterien zunehmend in Containern verschifft und stellen eine ernsthafte Brandgefahr dar, wenn sie falsch deklariert oder verstaut werden.

Seit Corona ist die Zahl der versuchten Cyberangriffe auf den maritimen Sektor um 400 Prozent gestiegen

Unterdessen zeigen die Ereignisse im Golf von Oman und im Südchinesischen Meer, dass politische Rivalitäten zunehmend auf hoher See ausgetragen werden und die Schifffahrt weiterhin in geopolitische Auseinandersetzungen hineingezogen wird. Erhöhte politische Risiken und Unruhen weltweit haben Auswirkungen auf die Schifffahrt – wie z.B. die Sicherheit der Besatzungen zu gewährleisten und Häfen sicher anzulaufen. Darüber hinaus stellt die Piraterie nach wie vor eine große Bedrohung dar: Der Golf von Guinea gilt wieder als globaler Brennpunkt, während in Lateinamerika bewaffnete Raubüberfälle zunehmen und auch die Piraterie in der Straße von Singapur wieder zunimmt.

Auch Schiffseigner sind laut AGCS zunehmend besorgt über Cyberkonflikte. Es hat eine wachsende Zahl von GPS-Spoofing-Angriffen auf Schiffe gegeben, insbesondere im Nahen Osten und in China. Seit dem Ausbruch des Coronavirus ist die Zahl der versuchten Cyberangriffe auf den maritimen Sektor um 400 Prozent gestiegen.

Die jährlich veröffentlichte Studie der AGCS analysiert die gemeldeten Verluste von Schiffen über 100 Bruttoregistertonnen und identifiziert auch zehn Herausforderungen, die sich aufgrund der Covid-19-Pandemie auf die Sicherheit und das Risikomanagement in der Schifffahrt auswirken könnten. Im Jahr 2019 wurden weltweit 41 Totalschäden von Schiffen gemeldet, im Vergleich zu 53 im Jahr 2018.

Dies trägt zu einem Rückgang von ca. 70 Prozent innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre bei und ist das Ergebnis nachhaltiger Verbesserungen der Schifffahrtsindustrie in den Bereichen Regulierung, Ausbildung und Technologieeinsatz. Seit Beginn des Jahres 2010 wurden insgesamt mehr als 950 Schiffsverluste registriert

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