CIO-Talk mit Paul Quinsee von J.P. Morgan AM

Anleger sollten ihre Allokation überdenken und ihre Portfolios etwas mehr in Richtung Value ausbalancieren

  • Hohe Bewertung nicht bei allen Technologieaktien: Auf die Gewinner von morgen setzen
  • Value-Aktien: Die Bewertungslücke sollte sich weiter schließen
  • Inflation sollte die Gewinne weniger beeinflussen

Frankfurt, 22. Juli 2021 – Die globalen Aktienmärkte entwickelten sich in diesem Jahr bisher sehr gut. Investoren fragen sich nun, wie die weitere Entwicklung im zweiten Halbjahr aussehen wird: Setzt sich die Sektorrotation aufgrund der weiteren Öffnung der Wirtschaft fort? Oder gibt es ein Comeback der Technologiewerte? Wie ist die Inflation und deren Auswirkungen auf die Aktienerträge einzuschätzen? Und wie sollen Anleger auf die hohen Bewertungen in vielen Märkten reagieren? Diesen Fragen stellte sich Paul Quinsee, Global Head of Equities bei J.P. Morgan Asset Management, im CIO Talk.

Herr Quinsee, Sie treffen sich einmal im Quartal mit allen Portfolio-Managerinnen und -Managern in der globalen Aktiengruppe von J.P. Morgan Asset Management zu einem Strategiegipfel. Welche Themen standen zuletzt bei den Profis im Fokus?

Paul Quinsee: Bei diesen Treffen werden tatsächlich alle Ideen und Insights der verschiedenen Aktienfonds-Managerinnen und -Manager für die unterschiedlichen Regionen und Strategien diskutiert. Wichtig ist, dass es dabei nicht „die eine“ Sicht gibt, sondern dass jeder seine Meinung teilen und damit die anderen inspirieren kann. Eine Erkenntnis aktuell: Die Ertragserwartungen sind bei den meisten nur noch durchschnittlich oder sogar leicht unter dem Durchschnitt, weil die Märkte bereits weit gelaufen sind. Allerdings sehen sie die Erholung der Unternehmensgewinne weiterhin als überdurchschnittlich gut an – sowohl was die Stärke als auch den Umfang angeht.

Nachdem sich die Märkte in den letzten 18 Monaten so dramatisch verändert haben wie selten zuvor, sind die Bewertungen insgesamt höher als ihr historischer Durchschnitt. Einige Marktsegmente wie Wachstumsunternehmen scheinen inzwischen teuer, die sollten Anleger mit Vorsicht betrachten. Aber das gilt eben nicht für den gesamten Markt, und so ist es wichtig, selektiv zu sein, zumal das Sentiment immer wieder Anzeichen von Überhitzung zeigte. Gerade bei den Unternehmen, die von der Pandemie besonders betroffen waren – Banken, Zykliker, Industriewerte und Reiseunternehmen – findet weiterhin eine Erholung statt, die noch lange nicht ihr Ende erreicht hat und weiterhin gute Chancen bietet.

Und so haben wir vom letzten Strategiegipfel zwei wichtige Botschaften für Anleger mitgenommen: Aktien sind immer noch eine wichtige Anlageklasse, aber jetzt ist es nicht mehr die Zeit, die Allokation massiv auszubauen, sondern eher, die Allokation selektiv anzupassen. Und zweitens sollten Anleger versuchen, innerhalb ihrer Allokation neben dem, was über die letzten zehn Jahre gut funktioniert hat – also den immer größer werdenden technologiegetriebenen Wachstumsunternehmen – auch den Value-Unternehmen, die jetzt von der Erholung profitieren, wieder einen Platz im Portfolio einzuräumen.

Wo sehen Sie Chancen bei Bewertungen und Unternehmensergebnissen?

Paul Quinsee: Dank der starken Erholung weltweit sehen die Unternehmensgewinne aktuell wirklich sehr beeindruckend aus. Allein die US-Unternehmen im S&P 500 haben ihr Ergebnis im ersten Quartal durchschnittlich um 12 Prozent steigern können – das ist besser als in der ganzen letzten Dekade. Und für das zweite Quartal sehen die ersten veröffentlichten Zahlen noch besser aus! Auch die Gewinne sind um rund 50 Prozent angestiegen, was eine extrem starke Erholung anzeigt. Das ist vor allem deshalb so bemerkenswert, weil wir uns im letzten Jahr noch gefragt haben, wie schnell die Unternehmen die Auswirkungen der Pandemie in ihren Gewinnen ausgleichen können. Und bereits ein Jahr später liegen die Gewinne sogar 10 Prozent höher als vor der Pandemie. Das ist wirklich eine schöne Überraschung. So haben wir unseren Gewinnausblick für 2021 bereits um 200 Milliarden US-Dollar angehoben. Dieses enorme Momentum im Unternehmenssektor verbunden mit den anhaltenden Unterstützungsprogrammen und der weiterhin lockeren Zentralbankpolitik stimmt unseren Ausblick auch für das zweite Halbjahr 2021 und das Jahr 2022 optimistisch.

Die Bewertungen sehen zwar in einigen Marktsegmenten in den USA überreizt aus, aber sie sagen sehr wenig über das kurzfristige Ertragspotenzial aus. Sie sind eher für die fünf- oder zehnjährigen Ertragsaussichten relevant. In den USA sind sie vor allem durch das dramatische Wachstum der Technologieunternehmen in den letzten zehn Jahren getrieben. Heute handeln die am stärksten wachsenden Unternehmen mit den besten Ertragsaussichten zum 38-fachen KGV, während der Durchschnitt beim 22-fachen liegt. Solch eine große Lücke gab es zuletzt während der Technologieblase rund um die Jahrtausendwende. Die unterbewerteten Substanzwerte haben wiederum ein KGV von 11. Es sind also nicht alle Unternehmen so hoch bewertet, sondern nur ein bestimmter Teil des Marktes.

Und natürlich gibt es dabei auch ein gewisses spekulatives Element: Man erwartet von diesen Wachstumsunternehmen einfach, dass sie Gewinne machen, selbst wenn sie dies noch nie unter Beweis stellen konnten. Es gibt insgesamt rund 200 Large-Cap-Unternehmen, die nicht profitabel für ihre Aktionäre sind. Davon stammt die Hälfte aus den Segmenten Software und Biotechnologie und ebenso ist rund die Hälfte in den USA beheimatet. Diese Unternehmen haben im letzten Jahr 68 Prozent outperformed – es gibt also viel Optimismus über ihre zukünftige Ertragskraft im Markt, auch wenn dies nicht in jedem Fall gerechtfertigt ist. So mögen einige Erwartungen enttäuscht werden – darüber sollte man sich bei der Aktienallokation bewusst sein.

Über die letzten Jahrzehnte haben sich gerade im Bereich der Technologie die Marktführer immer wieder verändert. Und so kann es sich lohnen, statt auf die aktuellen Platzhirsche lieber auf die Unternehmen der Zukunft zu setzen. Denn auch wenn die Nachfrage der Konsumenten dank der massiven Erholung weiterhin stark bleiben sollte, müssen die sehr erfolgreichen Unternehmen ihr Wachstum auf einem sehr hohen Niveau fortsetzen. Aber es gibt eben auch andere Marktsegmente, die günstiger sind und auf dynamischeres Wachstum hindeuten. Wir sehen beispielsweise viel Potenzial für das Thema Cloud-Computing, das in vielen Technologiebudgets bisher rund 20 Prozent ausmacht und in absehbarer Zukunft auf 50 Prozent steigen sollte. Auch Trendthemen wie neue Segmente des Online-Handels oder Streaming-Dienste sehen wir als langfristige Wachstumstrends an, die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen.

Eine anderes Thema, das Anlegern auf den Nägeln brennt, sind die Substanzwerte. Ist die aktuelle Value-Rallye nachhaltig?

Paul Quinsee: Der Value-Stil war tatsächlich sehr lange wenig erfolgreich, weshalb heute viele Anleger in diesem Stil untergewichtet sind und ihre Portfolios eher auf Growth ausgerichtet haben. Aber auch die Unternehmen, die langsamer wachsen, können Wert für Investoren schaffen. Und das aktuelle Umfeld sehen wir als eine gute Gelegenheit an, sich wieder den Value-Titeln zuzuwenden. Denn historisch waren Zeiten hoher Inflation unterstützend für Substanzwerte. Sie haben nicht den Druck auf die Bewertungen, wenn die Zinsen steigen.

Und Anleger sollen nicht glauben, dass sie zu spät dran sind. Auch wenn sich die Bewertungslücke zwischen Value und Growth schon wieder etwas geschlossen hat, ist sie immer noch sehr weit. Angesichts der zu erwartenden Gewinnsteigerungen sollten sich Anleger also unserer Meinung nach etwas optimistischer zeigen, und ihre Portfolios wieder etwas stärker in die Value-Richtung ausbalancieren.

Sollten Aktienanleger die Inflation als Risiko oder als Chance sehen?

Das, was wir gerade erleben, sieht sicherlich anders aus, als das Umfeld der letzten zehn bis 15 Jahre. Als Aktienanleger sehen wir gerade in den USA einiges an Kostendruck auf die Unternehmen zukommen, nicht nur bei den Rohstoffen, sondern auch bei den Löhnen. Gerade im Niedriglohnsektor ist es gerade herausfordernd, die Stellen zu besetzen. Aber das ist eher ein gesamtökonomischer Faktor für die Wirtschaft und bedeutet nicht unbedingt Gewinneinbußen für die Unternehmen – die höheren Kosten konnten bisher an die Konsumenten weitergegeben werden. Und Anleger sollten sich vielmehr bewusst machen, dass die Zeiten niedriger Zinsen in den USA endlich sind und was das für Unternehmen – gerade Value-Unternehmen – bedeuten könnte. Aber unseren insgesamt positiven Ausblick schmälert das vorerst nicht.

Herr Quinsee, vielen Dank für das Gespräch!

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