Nachfolgend finden Sie einen aktuellen Kommentar von Gareth Colesmith, Head of Global Rates and Macro Research bei Insight Investment:
Nach der Krise: Verpasst Europa den Aufbau eines stärkeren Systems?
Noch immer ist nicht klar, wie die Koalition in Deutschland schlussendlich aussehen wird. Doch was bedeutet das deutsche Wahlergebnis nun aus europäischer Sicht? Es gibt sowohl kurzfristige als auch langfristige Auswirkungen. Kurzfristig gesehen geht es um die Fiskalpolitik, wie schnell die Länder wachsen und ob sie ihre Richtlinien beibehalten oder ändern. Langfristig ist das gegenseitige Vertrauen der europäischen Regierungen entscheidend. Im Falle einer Krise stellt sich die Frage, ob die europäischen Regierungen sich hier durchmanövrieren können oder werden sie Taten sprechen lassen. Werden sie wirklich alles tun, um gemeinsam ein stabiles System für die Zukunft aufzubauen?
Der Rückgang des BIP war sicherlich sehr ungewöhnlich – allerdings auch dessen Erholung. Nach einem Fall des BIP erholen sich Wirtschaftssysteme in der Regel sukzessive . Dies passiert typischerweise, nachdem Regierungen fiskalpolitische Stimuli beschlossen haben. Doch nicht in diesem Fall. Dieses Mal kam es zu einer sehr ausgeprägten und starken Verlangsamung der Wirtschaftsaktivitäten von durchschnittlich 15% in der gesamten Eurozone. Hervorgerufen wurde dies durch die Lockdowns – also das bewusste Schließen ganzer Wirtschaftszweige seitens der Regierungen. Unmittelbar nach der Wiedereröffnung war eine sehr deutliche Erholung zu spüren, die stärker ausfiel, als dies normalerweise der Fall sein würde. Wichtig ist jedoch die Lücke im Vergleich zum BIP-Trend VOR der Pandemie.
Zurzeit rangieren wir noch 2,5 % unter dem Level, das Ende 2019 in Europa vorherrschte. Es mehren sich die Anzeichen, dass diese Lücke im vierten Quartal geschlossen werden kann. Schaut man sich jedoch die Vorhersagen an, so zeigt sich auch, dass eine komplette Rückkehr zum Trend von vor der Pandemie so schnell allerdings nicht möglich erscheint. Das BIP verbleibt etwa 2 % unter dem vormaligen Trend und das hat Auswirkungen. Allerdings ist das nicht überall der Fall. Schaut man in die USA, ist das BIP Level von vor der Pandemie bereits nahezu wieder hergestellt worden. Hier ist die Erwartung, dass der Trend von Ende 2019 noch in diesem Jahr erreicht wird. China wiederum ist bereits jetzt wieder auf seinem Trend von vor der Pandemie angekommen.
Hier stellt sich die Frage: Warum haben sich diese Länder so viel besser erholt als Europa? Der Unterschied liegt in der Fiskalpolitik. Zwar haben wir auch in Europa Anreize gesehen, allerdings nicht in dem Ausmaß wie in anderen Ländern. Einerseits sollte man nicht immer die Finanzpolitik heranziehen, andererseits ist dies in einem extremen Umfeld sehr wohl angebracht. In solch einem extremen Umfeld befinden wir uns nun bereits seit mehr als 18 Monaten. Bis zu einer endgültigen Erholung der Wirtschaft sollte die Fiskalpolitik beibehalten werden.
EZB sieht Situation gelassen
Ob es in Deutschland zu einer Ampel- oder zu einer Jamaika Koalition kommt, wird unterschiedliche Auswirkungen auf die Spreads haben – wenn auch nur in geringen Maßen. In beiden Fällen wird es eine auf das Zentrum ausgerichtete Regierung sein. Die FDP wird wahrscheinlich bei beiden Koalitionen das Finanzministerium besetzen. Was bedeutet das für Deutschland? Obwohl es ein gut durchdachtes System der Kurzarbeit gab, hat sich der Arbeitsmarkt noch nicht erholt. Nach wie vor sind die Arbeitslosenzahlen höher als vor der Pandemie. Das heißt, es gibt immer noch eine halbe Million Deutsche, die aktuell keinen Arbeitsplatz haben, jedoch Ende 2019 in einem Angestelltenverhältnis waren. In Relation zum Trend von vor der Pandemie liegen wir zurzeit bei etwa 1,4 Millionen Arbeitslosen.
Ein ebenfalls wichtiges Thema in Deutschland ist die Inflation, die viele Sorgen hervorruft. Eine Inflation von 3% gibt dazu allen Grund. Sollte diese bei 3% in der Eurozone bleiben, wird die EZB eingreifen. Die Frage ist: Wird die Inflation auf diesem Niveau verbleiben oder ist dies vorübergehend?
Kurzfristig hat der Lockdown die Preise gesenkt. Nach der Wiedereröffnung erholten sie sich bis zu dem Niveau, welches vor der Pandemie herrschte. Es ist somit keine allgemein hohe Inflation zu erkennen. Nach aktueller Einschätzung wird das Trend-Jahresziel von 2 % nicht erreicht werden. Die USA hingegen befinden sich bereits weit über ihrem Trend von vor der Pandemie und haben demnach allen Grund, sich über die Inflation Sorgen zu machen. Die FED ist in Bezug auf die Inflation zu einer durchschnittlichen Zielsetzung zurückgekehrt und haben diese bereits angepasst. Die EZB hingegen hat aus unserer Sicht keinen Grund, sich übermäßig Sorgen zu machen. Denn sollte es sich hier um eine vorübergehende Entwicklung handeln, hat die EZB Recht damit, die Situation gelassen zu sehen.
Fazit
Sicherlich kann sich diese Situation ändern. Aber aktuell gibt es keinen Grund zur Sorge. Langfristig gesehen hat Deutschland immer einen Weg durch die Krise gefunden.
Das deutsche Kanzleramt spielt in Europa eine zentrale Rolle. Kurzfristig ist Merkel mit Krisen gut umgegangen. Allerdings hat sie es verpasst, ein wiederstandfähigeres System aufzubauen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es In Europa ein gutes kurzfristiges Krisenmanagement gibt. Allerdings kehren danach alle wieder zu ihrem Ursprung zurück, um sich hauptsächlich um ihre nationalen Belange zu kümmern. Man könnte auch sagen, in einer Krise kommt es nach wie vor drauf an, wer gerade im Amt ist. Dies bestimmt in der Folge die Art und Weise, wie eine Krise in Europa bewältigt wird. Hier ist es allgemein von Vorteil, in Deutschland eine auf das Zentrum ausgerichtete Regierung zu haben. Idealerweise ist dies auch in anderen Ländern der Fall. Dies würde bedeuten, dass Krisen leichter bewältigt werden können.
Konzentriert sich Europa jedoch verstärkt auf die Integration, ist eine Föderalisierung des Staatenbundes denkbar.
Ein Auseinderbrechen – wie im Falle des Brexits – ist unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz sollte man die Augen offenhalten.